Lenzenhorst

Vorwort von Alexander Schlutz


Lenzenhorst ist da, wo die Worte sich im Nichts verlieren, wo das Erzählen aufhört, das Schweigen verstummt, und das Unsagbare seinen Anfang nimmt. Ein Ort der unmöglichen Begegnung, an den man sich nicht erinnern kann und der trotzdem stets im Gedächtnis bleibt; der zum Reden zwingt, ohne sagbar zu sein; wo man ist, aber niemals sein kann: Imaginationsfetzen und Erinnerungslücken hinter verspiegelten Brillengläsern - ein Grenzgang am Rande der Zeit.

Im Niemandsland dieser Erzählung, die sich im fiktionalen Wechsel zwischen Erinnerung, Gegenwart und Imagination selbst beim Entstehen beobachtet, erfindet sich Erfranz ein Leben, das nicht das eigene sein darf, um wirklich zu werden. Sein Schreiben entfaltet dabei das paradoxe Schicksal eines jeden Erzählers, niemals Teil des Erzählten sein zu können und dennoch nur im Erzählen zu existieren - durch Beobachtung eine Welt zu erschaffen, an der der beobachtende Erzähler selbst niemals handelnd teilhaben kann. Verloren zwischen Namen und Pronomen ist es Erfranz nicht erlaubt, an die Einheit von Beobachten und Handeln, Leben und Erzählen zu glauben, während er sich ebensowenig in die vorgetäuschte Sicherheit einer erzählerischen Vogelperspektive zurückziehen darf, von der aus sich die eigene Fiktionalität verdrängen ließe. Erfranz existiert allein in der unaufhebbaren Spannung zwischen diesen beiden P olen des Erzählens.

In dem Wunsch, diesem Erzählerschicksal im Nicht-Ort der Sprache dennoch zu entgehen, ist Erfranz bemüht, unbemerkt aus der eigenen Geschichte zu verschwinden, sich erzählend und beobachtend in den Worten aufzulösen, die es ohne ihn nicht gäbe und das eigene Sprechen in Schweigen umzumünzen, um so nicht mehr auf der unmöglichen Grenze zwischen Leben und Beobachten gefangen zu bleiben. In keiner Geschichte vorkommen. Auch nicht in der eigenen, für Erfranz das höchste Glück. Eine Erzählung ohne Erzähler jedoch ist nicht denkbar, denn ohne Stimme gibt es keinen Text, ohne Beobachtung kein Leben. Die Flucht aus der eigenen Geschichte kann daher nur in dem Moment gelingen, von dem wir wissen, daß er weder erleb- noch beobachtbar ist, und somit definitiv außerhalb des Erzählbaren liegt. Nur in der unmöglichen Beobachtung des eigenen Todes, im unvorstellbaren Zur-Sprache-Bringen des absoluten Verstummens, ließe sich das Paradox des Erzählers vielleicht überwinden, könnte noch das völlige Verschwinden im eigenen Sprechen inszeniert werden. Und so ist der Tod das zentrale Franzthema, wird Lenzenhorst in der Erinnerung an ein fiktionales Leben Schritt für Schritt zur Annäherung an den eigenen Tod, auf den die in der Franzerinnerung und der Franzphantasie sterbenden Figuren nur Geheimnis bleibende Vorbereitung sein können. Die Sehnsucht nach dem höchsten Glück ist dabei von der Angst vor dem Nichts des Todes, das Erfranz schweißgebadet die Nächte raubt, nicht zu trennen: Auch in der Fiktion läßt sich nicht erahnen, was jenseits der Sprache geschieht, und selbst die imaginäre Kamera, die Erfranz auf sein Sterbebett richtet, kann nicht erfassen, was mit ihm geschehen wird, sobald er ihren Blick nicht mehr erwidert.

Lenzenhorst ist die narrative Suche nach einem unbeschreibbaren Moment, eine Suche, die, selbst wenn sie niemals ans Ziel kommen kann, dennoch nicht umsonst ist. Denn nur in der Bemühung um das Unmögliche kann sich etwas zeigen, das im Bereich des Möglichen notwendig unsichtbar bleibt. Ein wortloser Augenblick---jenseits der Endlichkeit. Nur so kann es zum Beispiel geschehen, daß in Erfranz unerwartet eine Veränderung vorgeht, als er in der Erinnerung dem sterbenden Franzvater ein Kind auf den Schoß legt und in einem Moment erzählerischen Glücks ein beginnendes Leben dem vergehenden begegnet, um Wirklichkeit zu werden: Plötzlich kommt aus dem Rollstuhl die Franzvaterliebeswelle. Nie hat Erfranz das gesehen. Ein Augenblick der Stille jenseits des Verstummens. Unerwartet und unwiederholbar. Dort ist Lenzenhorst.



Heiner Frost 
Erstellt: 19.10.2002. Letzte Änderung: 24.07.2005