Auf der Straße: Ein paar
Kratzer im Teer. Auf dem
Grünstreifen: Glassplitter. Auf dem Fahrradweg: Sandflecken,
wo
das Öl war. Die Straße vergisst ihre
Tragödien schnell... So beginnt keine Weihnachtsgeschichte.
Oder doch?
Djamil sitzt in der Krankenhauskantine. Ein schmächtiger Mann von 25 Jahren. Eigentlich will er nicht reden. Er will zu seiner Frau. Er will die Bilder loswerden, die ihn nachts anfallen und ihm den Schlaf rauben. Immer beginnt alles mit diesem Knall. Alles dreht sich. Dann hört er die Sirenen und das Weinen der Kinder. Dann reißt sein Film.
Djamils Geschichte beginnt wie viele Geschichten, in denen der Tod eine
Rolle spielt, ganz normal — ganz unscheinbar und: Ganz
gewöhnlich.
Zu fünft sind sie ins Auto gestiegen. Seine Frau, die beiden
Kinder und er. Mathematik der guten Hoffnung: Da ist noch das Kind im
Bauch. Djamils Frau ist schwanger: Woche 25. Im Handschuhfach des
Wagens: Ein Bild: Ultraschall: Es wird ein Junge. Das wissen sie schon
jetzt. Sie fahren zum Tanken. Es ist wie immer. Von
‘sHeerenbergh
geht es nach Emmerich. Nicht weit hinter der Autobahnauffahrt: Die
Tankstelle, zu der sie immer fahren. Kaum sieben Kilometer sind das. In
Deutschland ist das Benzin günstiger.
An der Tankstelleneinfahrt setzt
Djamil den Blinker. Er muss links ab.
Er muss den Gegenverkehr abwarten und sieht einen Lastwagen
im
Rückspiegel. Na und. Was soll schon passieren? So funktioniert
Straßenverkehr.
Alles gut, solange keine Fehler passieren. Aber an diesem Tag passiert
ein Fehler: Der Lastwagenfahrer übersieht den kleinen Suzuki.
Bei
Tempo 70 reicht manchmal ein Wimpernschlag der Unachtsamkeit.
Sekundenbruchteile entscheiden über Schicksale. Über
Lebensläufe. Todesläufe. An diesem Tag wird der Tod
nicht zum
Zuge kommen, obwohl er in der Sekunde, da Djamils Film immer beginnt,
die Arme schon weit ausgebreitet hat.
Djamil erinnert sich nicht. Nur das
Geräusch überfällt
ihn. Ein lauter Knall. Der Lastwagen rast ungebremst auf den Suzuki.
Die Kräfte, die jetzt freiwerden, könnte man
ausrechnen. Es
ist wahrscheinlich so, als würdest du mit siebzig Sachen
ungebremst gegen eine Betonwand fahren. Nur, dass die Wand von hinten
kommt.
Der Aufprall katapultiert Djamils Wagen in den Gegenverkehr. Was schief
gehen kann, geht schief: Auf der Gegenfahrbahn der Supergau: Ein
zweiter Lastwagen: Der Fahrer ist chancenlos: Niemand rechnet damit,
dass ihm ein Auto in den Weg geschossen wird.
Der LKW-Fahrer ist 35. Er hat schon
viel erlebt.
Viele Unfälle.
Schreckliche Unfälle. Immer hat er geholfen. Für ihn
gibt es
keinen Knall. Eine leichte Berührung spürt
er: Hinter
seinem Lenkrad. Und er ist froh, dass alles noch einmal glimpflich
abgegangen ist.
Als er dann aus seinem LKW steigt und das sieht, was irgendwann einmal ein Kleinwagen gewesen sein könnte, steht er wie betäubt. Wer Djamils Auto nach dem Unfall gesehen hat, wird nicht glauben, dass in diesem Blechhaufen fünf Menschen überlebt haben. Das Fahrzeug ist auf die Breite eines Formel-I-Wagens gestaucht. Gerade noch Fahrzeug — jetzt eine Wüste aus Schrott.
Anja Kevelaer hat schon einiges mitgemacht. Seit 14 Jahren arbeitet sie in der Tankstelle, bei der Djamil zu den Stammkunden gehört. Von ihrem Platz hinter der Registrierkasse sieht sie auf eben jene Kreuzung, die plötzlich das Auto ausspuckt. Zwei Riesen spielen Pingpong und schieben sich den Suzuki zu. Anja Kevelaer ist zweimal überfallen worden. Einmal hat man auf sie geschossen. Sie ist hart im Nehmen, und ihr ist sofort klar: Jemand muss helfen. Anja Kevelaer denkt nicht lange. Sie denkt vielleicht gar nicht in diesem Augenblick. Sie rennt zur Unfallstelle und hilft Djamil aus dem Trümmerauto. Die Fahrertür klemmt. Zusammen bekommen sie sie auf.
In Djamils Film im Kopf taucht das Schreien seiner Kinder auf. Er sieht Blut. Er sieht seine Frau — er sieht Öl und Benzin tropfen. Er spürt seine Schmerzen nicht. Er muss seine Familie aus diesem Auto holen. Die Kinder schreien. Aber sie sind am Leben.
Der Film läuft weiter: Djamil sieht seine Kinder im Gras liegen. Das Gras ist der Grünstreifen. Er hört die Sirene des Krankenwagens. Der Film reißt.
Der dreijährige Sohn
erleidet einen Beinbruch, die sechs Monate
alte Tochter bleibt völlig unverletzt. Vater und Kinder werden
nach Kleve ins Krankenhaus gebracht — die Mutter nach Nimwegen.
Niemand, der die Unfallstelle passiert und das Wrack sieht, wird an Überlebende glauben. Willi nicht. Frank nicht. Sie fahren vorbei und sind sicher: Der Tod ist bei diesem Unfall als Sieger vom Platz gegangen. „Die sind doch alle tot.“
Djamils Frau hat eine Schulterprellung. Ihr Knie ist heftig angeschlagen. Der Gurt hat ihr einen Striemen auf den Körper tätowiert. Fünf Leben gerettet. Wie? Schutzengel, sagen die einen. Fünf Schutzengel müssen alle Hände voll zu tun gehabt haben.
Karl Meurs, Polizist, ist gläubiger Christ. „Natürlich waren Schutzengel am Werk“, ist Meurs sicher. „Aber das allein reicht nicht als Erklärung.“ Die Logik greift ein: „Wären die Kinder nicht vorschriftsmäßig gesichert und die Erwachsenen nicht angeschnallt gewesen, dann ist eines ganz sicher: Niemand im Auto hätte diesen Unfall überlebt.“
Karl
Meurs ist einer der Opferschützer der
Kreispolizeibehörde und
weiß, wovon er spricht. „Die fünf Menschen
wären
wie Katapulte aus dem Auto direkt in den Gegenverkehr geschleudert
worden — dem Lastwagen gleich unter die Räder.“ Das
Todesurteil. „Die Eltern haben ihren Kindern zum zweiten Mal
das
Leben geschenkt“, unterstreicht Karl Meurs die Wichtigkeit
der
Rückhaltesysteme.
Anja Kevelaer sieht an ihrer Tankstelle oft genug auch ganz andere Situationen: Kinder, die ungesichert auf Vorder- oder Rücksitz des Autos Platz genommen haben. Unglaublicher Leichtsinn.
Bei Djamil und seiner Familie waren die Schutzengel in jedem Fall auch am Werk. Und sie haben ihre Arbeit gut gemacht. Fünf Leben im Advent. Djamil hat jetzt nur einen Wunsch: Er will zu seiner Frau. Telefoniert haben sie schon. Aber er will sie sehen. In den Arm nehmen. Bei ihr sein.
Und er will den Film wegwischen. Wegwischen aus Kopf und Seele. Das geht nicht. Der Unfall springt ihn an. Immer wieder dieser Überfall der Töne und Bilder. „Ich habe nur an meine Kinder und an meine Frau gedacht“, erzählt er immer wieder.
Nein: Er will nicht ins Fernsehen mit dieser Geschichte. Er will auch sein Bild in keiner Zeitung. Aber die Geschichte aufschreiben — „dat kan!“ Mit geänderten Namen.
„Schreiben Sie, dass Kindersitze auch ein schönes
Weihnachtsgeschenk sein können“, wünscht
sich der
Polizist. Was nützt das ferngesteuerte Auto oder die
Polly-Pocket-Sammlung, wenn ein Kind bei einem Unfall umkommt, nur,
weil es an der Sicherheit gefehlt hat.“
Im Autowrack: Eine Ernie-Puppe und ein Kinderturnschuh. Das Bild wird
zu einem Rufzeichen im Kopf. Djamil hat Angst vor der Nacht — vor dem
Film. Vor dem Knall. Vor den Sirenen.
Mit den Fahrern der beiden LKW
möchte er nicht sprechen. Djamil
braucht Zeit. Djamil braucht Abstand. Später vielleicht. Und
das
Baby im Bauch? „Die Ärzte sagen, dass alles gut
wird.“
Morgen werden sie Djamil entlassen. Die Kinder müssen noch
bleiben. Aber zu Weihnachten werden sie alle zuhause sein. In ihrem
neuen Leben.