ohne Gnade
1. Tag
Am Kraterrand
Man möchte sich die Ohren zukleben. Aber: Wer berichten will, muss
sich auf den Weg an die Kraterränder begeben. Hat man nicht alle
Grausamkeiten schon angehört? Gibt es Steigerungen? Vor der 4.
Großen Strafkammer des Klever Landgerichtes läuft ein Prozess gegen
drei Angeklagte (zwei Männer, eine Frau), denen Ungeheuerliches
vorgeworfen wird.
„Laut Staatsanwaltschaft sollen die 37-Jährige Angeklagte und ihr
Ehemann in ihrem Haus in Kalkar-Grieth über längere Zeit das
spätere, zuvor obdachlose, Tatopfer als Untermieter beherbergt
haben. Zum Opfer soll die Angeklagte in der Folgezeit ein intimes
Verhältnis, das auch von Gewalt geprägt gewesen sein soll,
unterhalten haben. Als sie im August 2014 die beiden anderen
Angeklagten kennen lernte, soll sie mit einem von ihnen ein neues
intimes Verhältnis begonnen haben. Da das spätere Tatopfer der
neuen Beziehung im Wege stand, soll sie spätestens Mitte September
2014 beschlossen haben, dass ‚der weg muss‘. Um die beiden anderen
Angeklagten dazu zu bewegen, die Tötung mit ihr durchzuführen,
soll sie ihnen Mitte September 2014 berichtet haben, dass sie seit
Jahren von dem späteren Tatopfer misshandelt und vergewaltigt
worden wäre. Gegen Abend des 14. September 2014 sollen sodann die
drei Angeklagten zu der Wohnanschrift in Kalkar-Grieth gefahren
sein. Als das Tatopfer aus seinem Zimmer trat, soll einer der
Angeklagten der gemeinsamen Absprache entsprechend, unmittelbar
mit dem Baseballschläger gezielt und unversehens sowie mit
erheblicher Wucht unter anderem in das Gesicht des Opfers
geschlagen haben (auch noch, als dieses bereits am Boden lag), um
ihn zu töten. Anschließend soll der aus dem Nachbarzimmer
hinzugekommene zweite Angeklagte dem am Boden liegenden Tatopfer
einen mit derart großer Wucht geführten Schlag gegen den Kopf
versetzt haben, dass der Baseballschläger abbrach. Im Anschluss
sollen die beiden Männer das bewusstlose und aus Ohren, Nase und
Mund blutende Tatopfer mit einem Staubsaugerkabel die Arme und
Füße auf den Rücken gefesselt und liegen gelassen haben. Der Mann
soll kurze Zeit darauf verstorben sein. Die Angeklagte, die das
Geschehen vom Treppenabsatz beobachtet haben soll, soll – nachdem
sie die beiden anderen Angeklagten nach Hause gebracht hatte und
noch röchelnde Geräusche des Getöteten vernahm – noch mehrfach auf
den Kopf des Tatopfers eingetreten haben, um den Sterbevorgang zu
beschleunigen.“
Großes Besteck
So steht es im Pressespiegel des Landgerichts. Es gibt Tötungen am
Ende eines Strudels: Alle werden hineingesogen, aber alles hätte
auch ganz anders laufen können. Man kniet sich in die Umstände.
Sucht nach Gründen für eine Entgleisung. Das hier ist ein Mord ohne
Rückwärtsgang – ein geplantes Verbrechen. Nirgendwo ein Erbarmen.
Nichts, das sich im Rausch eines Affekts zutrug.
Das hier ist eine Tat, für die man kaum Verständnis mitbringen kann.
Kein Verstehen. Niemand kann und will in diesen Albtraum steigen.
Drei Angeklagte [Sandra S. (S.), Mario A., Sven G.] werden von sechs
Verteidigern vertreten. Zwei Staatsanwälte vertreten die Anklage.
Ein Nebenklagevertreter sitzt allein am Tisch. [Das Opfer: Mark M.]
Zwei Gutachter sind anwesend. Es ist das große Besteck. Die
Erwartung für den ersten Tag: Verlesung der Anklage und zumindest
eine Aussage zur Tat. Vorher: Drei Angeklagte machen Angaben zur
Person. Die zwei Männer: Drehtürentäter. Rein in den Knast. Raus aus
dem Knast. Rein in den Knast. Drogen. Gewalt. Diebstähle. Raub.
Narkose
Daneben: Eine Angeklagte ohne juristische Vergangenheit. Es gibt
nichts – keine Vorstrafen, keine Einträge im Zentralregister. Eine
anscheinend normale Jugend – nichts von den Geschichten, die
anzuhören und nachzuerleben man zu ertragen gelernt hat. Ein
Einzelkind ohne Probleme zuhause. Nichts, das aus der Bahn läuft.
Die beiden Mitangeklagten blicken auf andere Leben zurück. Als gegen
Ende des ersten Tages frühere Urteile verschiedener Gerichte
verlesen werden, schweift man am Ende mit dem Zuhören ab. Es ist die
Gleichförmigkeit des Unheils, die sich wie eine Narkose über den
Saal legt und in die Seele kriecht. Die Einlassung der Angeklagten
zu dem, was vor Gericht Tatgeschehen genannt wird, findet nicht
statt. Nachdem alle drei Angeklagten Angaben zur Person
gemacht haben, erklären die Verteidiger von Sandra S., dass ihre
Mandantin nun doch noch nicht aussagen wird. Die Verteidiger der
anderen beiden Angeklagten hatten gleich zu Beginn der Befragung
erklärt, ihre Mandanten würden „zu einem späteren Zeitpunkt“ auch
Einlassungen zum Tatgeschehen machen. Nicht jetzt. Sie erklären
auch, sie hätten nicht alle Protokolle bezüglich der
Telekommunikationsüberwachung [TKÜ] zur Verfügung gestellt
bekommen. „Sie sehen mich blass werden“, sagt der Vorsitzende
Richter. Solange die Unterlagen nicht vollständig zur Verfügung
stehen, wird es – so die Verteidigung – keine Einlassungen geben.
20 Minuten Pause. „Wir müssen das klären“, sagt der Vorsitzende
Richter. Es dauert am Ende länger. Nach der Pause gibt es CDs für
alle Verteidiger und die Nebenklage. Auf den CDs: PDF-Dateien mit
den Protokollen der TKÜ. Der Richter erklärt nach zehn Minuten,
jetzt mache man erst einmal Mittagspause. 30 Minuten. Nach der
Pause: Verlesung verschiedener älterer Urteile.
Im Prinzip
Gerichtstage quälen sich manchmal dahin. Nichts passiert. Nichts
jedenfalls, was den Laien weiter bringt. Die Erwartung: Eine
Angeklagte äußert sich zur Tat. Die Wirklichkeit: 90 Minuten zu
Beginn: Personalien. Dann: 20 Minuten Pause. Dann: Die Sache mit den
Protokollen. Dann: 20 Minuten Pause, die zu 40 Minuten werden. Dann:
Zehn Minuten Erörterung. Dann: 30 Minuten Mittagspause. Dann:
Verlesung verschiedener Urteile. Es ist nicht leicht, konzentriert
zu bleiben und man beobachtet Prozessbeteiligte, deren Köpfe schwer
werden und in Richtung der Brust sinken. Der Richter liest und liest
und liest. Liest von Einbrüchen, schwerem Raub, Drogenmissbrauch,
Geldfälschungen, Fahren ohne Fahrerlaubnis – er liest von
Einzelstrafen, die zu Gesamtstrafen werden, von Jugendstrafen, immer
wieder von Bewährungen, später von Knasterfahrungen. Gegen 14.45 Uhr
fragt einer der Verteidiger: „Was wird denn noch vorgelesen?“ Man
meint, in seinem Ton ein Flehen zu hören. Wie lange wird es noch
dauern? „Im Prinzip sind wir für heute durch.“
Was, denkt man sich, muss passieren, dass drei Menschen einem
anderen mit einem Baseballschläger brutal den Kopf einschlagen, so
brutal, dass sogar der Schläger zu Bruch geht, ihn mit einem
Staubsaugerkabel fesseln ... Man will es nicht wissen, aber es führt
kein Weg zum Urteil, wenn man sich nicht ins Zentrum der Tat begibt.
Ferdinand von Schirach schreibt in einem seinem Bücher, dass in
Berlin 15 Mal so viele Baseballschläger gekauft werden wie
Basebälle.
Am Ende des ersten Tages: Verständigungen. Ist am zweiten
Verhandlungstag mit den Einlassungen zu rechnen? Ja. Sollte man dann
nicht die Zeugen „umladen“, damit sie nicht unnütz auf dem Gang
warten, während im Saal die Tat besichtigt wird? Ein Zeuge ist für 9
Uhr geladen. „Das verschieben wir nach hinten“, sagt der
Vorsitzende. Alles andere: Wie geplant. „Wir haben hier schon alles
erlebt. So was kann nach einer Viertelstunde vorbei sein.“ [Bei drei
Angeklagten, die von einer Tat erzählen?]
In der Kantine sagt einer, der keinen Platz mehr findet: „Mord ist
gut für‘s Geschäft.“ Die Erinnerung ist eine eigenartige Maschine.
Was bleibt vom ersten Tag. Vorsitzender zur Angeklagten: „Wie ist
das Verhältnis zu ihrem Mann?“ Angeklagte: „Sehr gut. Zu meinen
Eltern auch. Die kommen regelmäßig zu Besuch und mein Mann wohnt
jetzt bei denen.“ Auf den Tischen der Verteidiger: Namensschilder.
Auf einem steht: RA Miseré.
2. Tag
Grundlos
Der zweite Tag im Prozess um den brutalen Mord an einem jungen Mann,
dem mit einem Baseballschläger der Kopf zertrümmert und das Leben
genommen wurde und den man am Tag darauf in einem Loch in der
Einfahrt des Hauses verscharrte, ist über weite Strecken nur schwer
zu ertragen.
Zu unvorstellbar die Tat. Zu unsinnig. Zu grundlos. Im Zentrum: Die
Aussagen von Sandra und Sven. Was ist schon Wahrheit? Vielleicht
lässt sich diese Frage nicht beantworten, weil man bereits an der
Frage scheitert, was Erinnern ist. Über 90 Minuten dauert allein die
Befragung von Sandra S. Sie trifft das spätere Opfer erstmals 1998.
Damals wohnt sie noch nicht in Kalkar. Die beiden verlieren sich aus
den Augen, treffen sich erst sieben Jahre später wieder. Sandra S.
ist längst verheiratet. Das spätere Opfer: Zunächst etwas wie der
beste Freund – einer, dem sie alles erzählen kann. Ihr Ehemann:
Service-Monteur. Viel unterwegs. Das Ehepaar wohnt in Reken.
Irgendwann nehmen sie das spätere Opfer bei sich auf. Alles ist in
Ordnung.
Dann, so erzählt Sandra, habe Mark etwas von ihr gewollt. Aus dem
besten Freund wird im Laufe der Erzählung ein anderer – einer,
der sie immer wieder vergewaltigt. Einer, dessen Wutausbrüche wie
Eruptionen stattfinden. Einer, der alles, was in seinem Leben schief
läuft, auf sie projeziert. [„Ich wollte mir ein T-Shirt machen
lassen. Auf dem hätte dann gestanden: Ich bin an allem schuld“, sagt
Sandra.] Sie nutzt schrille Farben und erstmals fragt man sich,
warum „so einer“ weiterhin Teil ihres Haushaltes bleibt? Warum wird
er nicht einfach hinausgeschmissen? Er, der sie – so sagt Sandra –
auch „mit Gegenständen vergewaltigt“. Warum nehmen Sandra S. und ihr
Mann Mark auch noch mit, als sie von Reken nach Kalkar ziehen? Mark
habe sich, so Sandra S., immer aufgeführt, als gehöre ihm alles. Als
Mark mehr oder weniger zufällig erfährt, dass Sandra zeitweise als
Prostituierte gearbeitet hat, brechen die Dämme. Alle Dämme. Wenn
sie es für Geld mit anderen Männern macht, dann ...
Das Vergewaltigungs-Paradox
Nein – sie habe ihrem Mann nichts von den zahlreichen
Vergewaltigungen erzählt, weil „der Mark mir gedroht hat. Er sagte,
er würde mir, meinem Mann und den Hunden [Sandra hat zwei Doggen]
was antun.“ Irgendwann habe sie gespürt, dass die Brutalität, mit
der Mark sie vergewaltigt haben soll, sie auch angezogen habe.
„Einvernehmlich war das nicht, aber es hat mir gefallen.“ Vielleicht
muss dergleichen in einem Rechtskundeseminar durchleuchtet,
hinterfragt werden. [Es war nicht einvernehmlich, aber es hat mir
gefallen.] Es taucht die Frage nach Täter und Opfer auf – nach
Ursache und Wirkung. Die Angeklagte hat einen Tag vor der Tat bei
einer Freundin Nadine [N.] Rat gesucht. „Ich wollte mit dem Mark
reden, aber ich habe mich allein nicht getraut.“ Sandra fragt die
Freundin, ob nicht deren Freund [Mario A.] mitkommen könne. „Zu
einem Gespräch.“ Mario muss erst nachdenken.
Am Tattag eine SMS. Mario ist dabei. Auch Sven (er ist der dritte
Angeklagte) erklärt sich „hilfsbereit“. Zwei Männer beschließen,
glaubt man Sandra S., angestachelt durch die
Vergewaltigungserzählungen von Sandra, sich einzusetzen. Zusammen
fahren sie zu dem Haus, in dem Sandra, ihr Mann Louis und Mark
wohnen. „Mein Mann sollte montags wieder auf Montage gehen und der
Mark hatte mir schon gedroht: „Wenn der Louis weg ist, dann geht es
hier erst richtig los.“ Ihre Helfer warnt die Angeklagte vor
Betreten des Hauses: Mark, sagt sie, sei brandgefährlich, habe
überall Waffen – Messer, Pistolen ... An der Heizung – unten im Flur
– lehnt ein Baseballschläger. [„Den hat mein Mann mir mal als
Souvenir mitgebracht.“ Richter: „Spielen Sie Baseball?“ Angeklagte:
„Nein.“). Es ist nicht wirklich klar, ob Sandra Sven den Schläger in
die Hand drückt oder ob Sven (sicher ist sicher) das Ding mit nach
oben nimmt. Es ist nicht sicher, ob der Schläger immer dort steht
oder ob Sandra ihn eigens dort platziert hat. (Für alle Fälle.) Was
für Außenstehende nichtig wirkt, kann am Ende elementar werden. Ein
Schläger, der einem der Täter in die Hand gedrückt wird, ließe auf
Anstiftung schließen ...
Die drei gehen in die erste Etage. Sandra klopft an Marks Tür, geht
hinein, spricht mit ihm. Er keift sie an. Sie verlässt das Zimmer,
geht zur Treppe und hört hinter sich, wie der erste Schlag das Opfer
trifft. Nein, sie hat nicht gesehen, wer geschlagen hat. Sie war ja
auf dem Treppenabsatz und kommt erst wieder nach oben, als das Opfer
auf dem Bauch liegt und sich nicht mehr rührt. Man fesselt den
schwer Verletzten und lässt ihn liegen. Sandra bringt Sven und Mario
nach Hause, kehrt dann an den Tatort zurück. Sie schaut nicht mehr
nachdem Opfer. Dass sie per SMS mitteilt, sie habe bei der Rückkehr
auf einen noch Lebenden eingetreten – Angeberei. („Ich wollte mich
wichtig machen. Ich bin gar nicht mehr nach oben gegangen.) In der
Auswertung von Sandras Chattverkehr findet sich unter anderem eine
von ihr nach der Rückkehr verfasste Nachricht: „War wohl nix. Das
Vieh lebt noch. Insektenspray hat nix genützt.“ Und später: „Was für
eine Nacht. Die Ratte in der Falle hat sich noch gewehrt. Musste als
Tierschützerin dem Vieh den Rest geben. Wusste gar nicht, dass
Ratten so zäh sind.“
„Weißt du was: Grab ein Loch.“
„Wo war eigentlich ihr Mann zum Tatzeitpunkt?“, fragt der
Vorsitzende Richter. „Ich denke, der war mit dem Hund unterwegs.“ In
der Nacht habe sie, so Sandra, nicht an Schlaf denken können. Sie
habe überlegt, was zu tun sei. Sie habe ihrem Mann jetzt alles
erzählt. Sie habe sich nicht an die Polizei gewendet, „weil doch der
Sven und der Mario beide schon im Knast gesessen haben“. Irgendwann
habe sie ihrem Mann gesagt: „Weißt du was: Grab ein Loch.“
Frühmorgens am anderen Tag – es sei ein Montag gewesen – habe ihr
Mann in der Einfahrt das Loch ausgehoben. Allein. Dann habe sie Sven
und Mario nochmals geholt. Die beiden hätten das Opfer nach unten
getragen, in das Loch gelegt und zugegraben. „So erinnere ich den
Tag.“
Eine Frau, die jahrelang massiv vergewaltigt wurde und sich nie
jemandem anvertraute – die ihren Peiniger selbst nach dem Umzug mit
in die neue Wohnung holte ... Der Ehemann weiß von nichts. „Wenn der
nach Hause kam, habe ich dem eine heile Welt gemacht.“ Irgendwann –
es ist nur ein Nebenbei – erklärt die Angeklagte, sie sei enttäuscht
von ihrem Ehemann gewesen. „Der hatte einen Job. Ich saß zuhause.
Der reiste durch die Welt.“
Sven
Dann die zweite Aussage. Vorweg erklärt einer der Anwälte von Sven,
sein Mandant wolle den geraden Weg gehen – nichts beschönigen, auch,
wenn es um Lebenslänglich gehe. Auch wenn, was sein Mandant getan
habe, schrecklich und grausam sei. Auch wenn der sich selbst diese
Tat nicht erklären könne. Der Anwalt sagt auch, dass kein Mensch nur
gut oder schlecht ist. Er sagt, dass sein Mandant für Menschen in
dessen Umfeld ein guter und verlässlicher Freund sei, dem es nicht
an Empathie mangele.
Dann: Svens Geschichte, anfangs erzählt von seinem Anwalt: Ja, es
gab einen Plan: Man wollte einem vorher betäubten Opfer (Sandra
hatte für Mark gekocht und ihm allerlei Medizin und Drogen ins Essen
gemischt) den „goldenen Schuss“ versetzen. Klartext: Das Trio war
angetreten, seinem Opfer eine tödliche Dosis Heroin zu spritzen. Der
Plan geht nicht auf. Als das Trio am Tatort eintrifft, brennt noch
Licht im Zimmer des Opfers. Vielleicht hat die Sache mit der
Betäubung nicht funktioniert. [Vielleicht, denkt man, ist die Sache
mit dem Essen und der Betäubung nur eine Beruhigungsgeschichte von
Sandra für die beiden Männer – ein Teil ihres Regieplans, in dem der
Angriff als Plan B auftaucht. Aber: Gab es einen Plan A? Im weiteren
Verlauf betont Sandras Verteidigung immer wieder, es sei um ein
Gespräch gegangen.]
Sandra S. warnt die beiden Mittäter nochmals eindringlich vor einem
unberechenbaren Mark. Es wird nicht wirklich klar, ob Sandra Sven
den Baseballschläger in die Hand drückt oder ob er selber danach
greift. Oben angekommen betritt Sandra, nachdem sie zuvor angeklopft
hat, Marks Zimmer. Ein Streitgespräch. Sandra verlässt das Zimmer,
Mark folgt ihr. Jetzt greift Sven ein. „Ich habe dem gleich eine
gegeben“. Sven trifft Mark mit dem Schläger am Kopf. Der taumelt
zurück in sein Zimmer, geht zu Boden und „bekommt noch einen“. „Der
hat mit den Armen versucht, das abzuwehren, aber ich habe ihm auf
die Arme geschlagen.“ Später wird Mark sprechen. „Was willst du
denn?“ soll der schon Getroffene gesagt haben.
Während die Tat im eigenen Kopf zu Bildern wird, realisiert man,
dass im Zuschauerraum die Eltern des Opfers Zeugen dieses Todes
werden – dass sie da sitzen und sich all das anhören. Sie hören,
dass Sven sich auf das Opfer setzt und noch zweimal mit der Faust in
dessen Gesicht schlägt. Sie hören, dass Mario vergeblich versucht,
zum „goldenen Schuss“ zu kommen. Es gelingt nicht. Sie hören von
Sven, dass Mario danach den Schläger übernimmt und mindestens einmal
zuschlägt. Sie hören: Der Schlag ist so wuchtig, dass der Schläger
zu Bruch geht – so wie der Schädel des Opfers. Sie hören von Sven,
dass Sandra nicht treppabwärts stand. Dass sie sehr wohl etwas
mitbekam. „Sie hat im Türrahmen gestanden und alles mit angesehen“,
sagt Sven. [Besser gesagt ahnt man, dass er das sagt. Sven spricht
leise. Wieder einmal findet ein Teil der Verhandlung „unter
Ausschluss der Öffentlichkeit statt“, die verzweifelt versucht, der
Aussage irgendwie zu folgen. Die Akustik im Saal: Ein unausgesetztes
Ärgernis. Eine akustische Zumutung. Irgendwann fragt einer der
Verteidiger, ob man nicht ein Mikrofon installieren könne.] Dann der
Gedanke: Was, wenn Sandras Eltern im Saal säßen? Dasselbe
Nichtaushaltenkönnen aus einer anderen Perspektive.
Louis
Für das Gericht geht es um anderes. Es geht darum, ob das Opfer noch
gelebt hat, als Sandra nach der Tat die beiden Männer zurückbrachte.
Es geht darum, ob es zwischen Sandra und Sven eine sexuelle
Beziehung gegeben hat und – wenn ja – wann. Wer hat wem wann von der
Tat erzählt? Im Anschluss an die Aussagen von Sandra und Sven: Ein
Kurzauftritt des Ehemanns, den die Beteiligten nur Louis
nennen. Er macht unter Zuhilfename eines Rechtsbeistandes von
seinem Recht Gebrauch, keine Aussage machen zu müssen. Zwischen ihm
und Sandra ein kurzer Augenkontakt und eine beschwichtigende
Handbewegung der Angeklagten: „Bleib ruhig“, sagt die Bewegung.
„Alles in Ordnung.“ Mario, der dritte Angeklagte, wird sich, sagen
seine Anwälte, erst später äußern.
Der zweite Tag: Ein Schreckensnebel. Für das Gericht geht es um die
Klärung der relevanten Fakten. Ließen die Männer, als Sandra sie
wegbrachte, einen Toten zurück? Man versucht, eine Vorstellung des
Tattages heraufziehen zu lassen. Man sucht nach einem Augenblick der
Gnade, den das Opfer erfahren hat. Es gibt keinen. Stattdessen gibt
es einen Satz, den die Angeklagte ihrem Opfer gesagt haben soll:
„Stirb wie ein Mann.“ Man fragt sich, in welcher Welt ein solcher
Satz zu Klang wird. Man möchte losheulen. Man hört, dass Sven
irgendwann darauf gekommen ist, dass Sandra all die
Schreckgeschichten – all die Vergewaltigungen – nur erfunden haben
könnte. Man hört, dass Sven begann, um das eigene Leben zu fürchten
[„Wenn die den weg machen lässt, dann vielleicht auch mich.“] Man
sehnt sich nach Trost – nach einer Kleinigkeit nur, die Hoffnung
macht. Aber da ist nichts. Da ist nur dieser schwarze Trichter (ein
Loch in der Einfahrt) und da ist die Justiz, die auf der Suche nach
einem Urteil abwägen muss, wer wann was wollte und wer wann tot war.
An einer Stelle sagt Sven sinngemäß: Er habe vor der Tat gedacht,
man schnappe sich den [das Opfer], schmeiße ihn aus dem Haus, sezte
ihn irgendwo aus. Und fertig. Das Opfer – Sprache macht Opfer zum
Neutren. Die Grammatik des Schreckens. Da wird einer entsorgt.
„Rausschmeißen und aussetzen reicht nicht“, soll Sandra gesagt
haben.
Erinnern, verbiegen
Es entsteht das Bild einer Frau, die alle Männer in ihrer Umgebung
fest im Griff zu haben schien. Während man so denkt, entsteht dieser
letzte Augenblick des Zweifels. Was, wenn sie von einem Monster
misshandelt wurde? Wird man selbst zum Täter, wenn man ihr nicht
glaubt? Die Rettung: Gesetzt den Fall, alles wäre so gewesen, dann
rechtfertigt nichts – gar nichts – eine solche Tat. Ein Tag wie
dieser, bei dem schon das Hinhören schmerzt, zeigt Dimensionen auf:
In der deutschen Sprache heißt es: Glauben schenken. Wem schenkt man
Glauben? Der Angeklagten, die sich als Opfer beschreibt und einer
Tat den Rücken zugedreht haben will, die nur ein Gespräch wollte und
von der dann eintretenden Wirklichkeit bis zur Handlungsunfähigkeit
geschockt war oder einem Täter, der – ein Lebenslänglich vor Augen –
die Flucht in eine scheinbar schonungslose Wahrheit antritt? Eine
Wahrheit, die ihn zu einem der Täter macht, zu dem, der den ersten
Schlag führte? Was ist Erinnern, was Verbiegen? Was ist Wahrheit und
was die Version, die ein Weiterleben mit der eigenen Grausamkeit
ermöglicht?
Architekturen
Prozesse sind wie Gebäude. Prozessberichterstattung ist
Gebäudebeschreibung. Es gibt viele Räume. Manchmal möchte man vor
der Architektur kapitulieren, denn sie lässt sich kaum in einen
Gebrauchstext pressen. Alles Schreiben ist Auswahl. Was kanndarf
weggelassen werden?
Der zweite Verhandlungstag: Ein Monster von Emotion und Dauer.
Beginn: 9 Uhr. Ende: 17.50 Uhr. Die da verhandeln, kennen die
Geschichte, die sie besichtigen. Es geht für sie darum, dass vor
Gericht alles noch einmal Wort werden muss. Ein Verweis auf die
Akten ist nicht genug. So fragen sich alle Beteiligten immer wieder
durch die Tat und haben Ziele im Kopf – Ziele, die sich an der
Marschroute orientieren. Für ein Publikum, das die Tat zum ersten
Mal betritt, ist irgendwann die Grenze des Fassbaren erreicht.
Fragen und Aussagen rauschen vorbei. Da ist die Verteidigung von
Sandra: Es geht darum, immer wieder herauszustellen, dass Sandra
nichts als ein Gespräch wollte – eines, bei dem sie (nur für den
Ernstfall natürlich) auf Unterstützung, Rückhalt, Sicherung hoffen
durfte. Dass manches, was die Angeklagte nach der Tat in Chatts
geschrieben hat, dieses Bild stört, ist eine Art Kollateralschaden,
der sich nicht verhindern lässt. Natürlich: Sandra kann mit der
„Ratte“, die sie in einem der Chats erwähnt, tatsächlich eine Ratte
gemeint haben. Ließe sich anderes beweisen? Dass sie irgendwann
später – es ist knapp einen Monat nach der Tat – an Sven schreibt:
„Das Arschloch hat mich geschwängert“ – Sandra selber sagt: Das ist
nicht wahr. An Sven hatte sie – zusammen mit der
Schwangerschaftsnachricht – auch geschrieben, er müsse sich keine
Sorgen machen. Von ihm stamme „das“ nicht. Eine Frau, die einem Mann
schreibt, sie sei schwanger, aber von ihm sei „das“ nicht, räumt
eine Beziehung ein, denn Sanrda wirkt nicht wie eine, die an die
unbeleckte Empfängnis glaubt. Sandra schreibt an Sven, sie brauche
Sex. Harten Sex. All das lässt sich nicht wegdiskutieren. All das
muss die Verteidigung hinnehmen.
Ein weiterer Raum im Prozessgebäude: Der gerichtsmedizinische
Gutachter. Er bespiegelt eine weitere Demarkationslinie. Waren die
Verletzungen, die das Opfer durch die Schläge mit dem
Baseballschläger erhielt, zwingend tödlich? Lebte das Opfer noch,
als Sandra ihre Helfer nach der Tat nachhause brachte? All das lässt
sich schon im „Normalfall“ nur schwer sagen. Der Tote lag mehrere
Monate verscharrt im Boden. Eine Stunde – vielleicht – könne das
Opfer den Angriff überlebt haben. Natürlich lässt sich das nicht
generalisieren. Glauben schenken. Je länger sich das Bild einer
jahrelang vom späteren Opfer geschundenen Frau aufrecht erhalten
lässt, die – von Verzweiflung getrieben und vom
Nichtmehraushaltenwollen – nicht mehr suchte als ein klärendes
Gespräch, solange es nicht gänzlich unmöglich ist, dass das Opfer
tot war, als Sandra die Männer nachhause fuhr – so lange sind
Zweifel angebracht. Sandra als potenzielle Friedensstifterin – nicht
als eine, die in Auftrag gab, dass jemand „weg muss“, der nicht mehr
in den Entwurf des eigenen Lebens, der eigenen Zukunft passt ...
Ein weiterer Raum: Zeugen, die Sven als einen eher ruhigen und nicht
zur Gewalt neigenden Menschen beschreiben. Ein Zeuge, dem Sandra
erzählt haben soll, sie und der Sven hätten „da einen platt
gemacht“: „Ich habe der nicht geglaubt. So etwas passt nicht zu
Sven. Ich kenne den doch.“ In einer Verhandlungspause steht er
im Innenhof des Gerichts bei Svens Frau.
Anstiftung
Der Pole – so nannten ihn alle – ist einer, der als erster
Außenstehender von der Tat wusste. Sven hat sich ihm offenbart. Der
Pole: Für das Trio ein wachsendes Risiko. Ein weiteres Risiko: Die
Leiche in der Hauseinfahrt. Vielleicht noch einmal aufgraben, Benzin
drüber – anstecken. Aber: Es bleibt immer etwas zurück.
Polizeibeamte erzählen von Vernehmungen. Von Telefonüberwachungen.
Einmal, sagt einer von ihnen, hat Sandra in einem Gespräch mit ihrem
Mann gesagt, sie halte das nicht mehr aus. Eine Aussage, die das
Bild stützt, das Sandras Verteidigung in die Karten spielt.
Dazu die Interaktionen der Verteidigungsteams. Sven hat gesagt, was
zu sagen war. Kaum eine Spur von Selbstrücksicht. Unklarheiten
einzig bei der Frage: Gab es eine (sexuelle) Beziehung zu Sandra
oder nicht. Svens Frau sitzt jeden Tag im Saal. Mario: Auch am
dritten Tag ohne Einlassung. Müsste man ein Bild seiner Beteiligung
zeichnen – es wäre (noch) das eines inaktiven Dritten, der –
vielleicht – mit dem „goldenen Schuss“ im Hintergrund wartet, mit
der Spritze aber nicht zum Zug kam. Mario: einer, der leugnen
könnte, was Sven sagt, nämlich, dass auch er, Mario, den Schläger
nutzte. Dass er es war, dem der Schläger zu Bruch ging. Sandra, die
nichts wollte als ein Gespräch? Mario, der nicht zum Zuge kam? Das
alles ließe Sven als einzig aktiven Täter zurück ... Natürlich
hält das Recht Lösungen für Menschen bereiten, die sich durch
Anstiftung schuldig machen. Der Paragraph 26 des Strafgesetzbuches
sagt: Als Anstifter wird gleich einem Täter bestraft, wer
vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener
rechtswidriger Tat bestimmt hat.
Schnell wird verständlich, dass Sandras Verteidigung immer wieder
herauszuarbeiten versucht, ihre Mandantin habe nichts anderes als
ein Gespräch gewollt. Was wird sich beweisen lassen? Was wird Ahnung
bleiben? Alle warten auf die Aussage von Mario. Man muss kein
Prophet sein um zu ahnen, dass nochmals eine andere Tat besichtigt
wird – zumindest wird eine neue Perspektive auftauchen.
Zwischendurch bleibt Zeit zum Nachdenken.
3. Tag
Mit Zahlen hab’ ich es nicht
Der dritte Tag soll die Aussage des dritten Angeklagten bringen.
Vorher: Polizeibeamte und ein Zeuge, der den Vorsitzenden Richter
ans Ende der Beherrschung bringt. Der 28-jährige Zeuge gibt auf die
Frage des Gerichts nach seinem Beruf „Rentner“ an. Ja, er kannte das
Opfer. Sie haben zusammen gearbeitet. „Wenn Sandra den Mark morgens
zur Arbeit gebracht hat, dann haben die mich für kleines Geld
mitgenommen.“ Was denn der Mark für ein Typ gewesen sei, möchte der
Richter wissen. „Schon ein Ruhiger.“ Andererseits habe der auch
aufbrausend sein können. „Aber der hat nie jemandem etwas getan. Der
hat, wenn er sich aufregte, eher mal gegen eine Tonne getreten. Der
war eine Art HB-Männchen, wenn Sie wissen, was ich meine. “ Beide –
der Zeuge und das Opfer – waren an Modellbau interessiert: „Schiffe
und Flugzeuge und so.“ Ein halbes Jahr haben sie zusammen
gearbeitet, sich dann aus den Augen verloren. Noch läuft die
Befragung ruckfrei. Ja, auch die Sandra hat der Zeuge gekannt. Bei
der habe er sich ab und an ausheulen können. „Die hatte immer ein
Ohr für mich.“ Immer wieder fragt der Richter nach Daten,
Jahreszahlen und rührt ans Desolate. „Mit Zahlen hab’ ich es nicht.“
Er habe, so der Zeuge, in einer Lebenskrise gesteckt. Es ist,
erfährt man, um Depressionen gegangen. Thomas Hans Günter Egon wurde
im Januar von der Polizei vernommen. Er hat, deutet sich an, einiges
erzählt. Als der Richter sich jetzt in die Nähe dieser Befragung
gibt, ändert sich die Stimmung des Zeugen. Er wolle am
liebsten alles widerrufen, was er gesagt hat. Der Beamte, der ihn
vernahm, hat ihm Vieles in den Mund gelegt. „Ich war genervt. Ich
hatte drei Tage nicht geschlafen. Ich wollte einfach nur weg. Ich
habe einfach nur immer Ja gesagt.“ Der Richter sieht es anders. „Sie
sagen uns, der Beamte hätte ihnen viel erzählt und Sie hätten dann
alles bestätigt. Das würde bedeuten: Lange Fragen, kurze Antworten.
Es sieht aber genau andersherum aus. Kurze Frage und lange
Antworten.“ Der Zeuge bleibt dabei: Er erinnert sich an nichts. An
gar nichts. Der Richter belehrt den Zeugen ein zweites Mal und keine
fünf Minuten später ein drittes Mal. „Da vorn sitzt der Staatsanwalt
und der hört genau zu. Das ist Ihnen schon klar?“ Dann unterbricht
der Vorsitzende Richter für fünf Minuten. „Ich muss mal raus. Ich
muss mich beruhigen. Sie können dann noch einmal darüber nachdenken,
was und wie Sie antworten möchten.“ Nach fünf Minuten erscheint der
Zeuge zusammen mit einer Zeugenbetreuerin. Er kann sich noch immer
nicht erinnern. „Dann ist wohl alles weitere Fragen sinnlos“, sagt
der Vorsitzende Richter. Einer der Verteidiger fragt den Zeugen:
„Hatten Sie Angst? Hat irgendjemand sie im Vorfeld dieser Befragung
angesprochen?“ „Nein.“ Die beiden Polizisten, die die Befragung des
Zeugen durchgeführt haben, beschreiben eine andere Situation. Man
habe dem Zeugen nichts in den Mund gelegt. Man habe ja Erkenntnisse
gewinnen wollen. Der Zeuge habe gereizt gewirkt. Ja, es sei möglich,
dass der Zeuge auch geäußert habe, er wolle nicht weiter befragt
werden. Der Zeuge sei sprunghaft gewesen.
Das Gericht spielt über Bande. Da der Zeuge sich an nichts erinnert,
müssen die Antworten aus der Befragung nun von den Befragern kommen.
All das wirkt mühsam und zieht sich hin, aber: Es gilt das
gesprochene Wort und nicht, was in den Akten festgehalten wurde.
Auftritt eines weiteren Zeugen. Es geht darum, dass er aussagen
könnte, die Angeklagte habe sich an ihn gewendet um „das Problem
Mark“ zu beseitigen. Ein Mordauftrag also. Der Zeuge sitzt in Haft.
Betritt in Handschellen den Saal. Was kann der Zeuge sagen, ohne
sich selbst zu belasten? Sandras Verteidigung schlägt vor, einen
Zeugenbeistand zu bestellen. Sandras Verteidiger geht es nicht um
den Schutz des Zeugen. Es geht darum, einen weiteren
Kollateralschaden zu vermeiden. Ein Mordauftrag wäre der größte
anzunehmende Unfall. Der Richter möchte sich zunächst ein Bild von
dem Zeugen machen. Der würde sich selbst belasten, wenn er von dem
potenziellen Gespräch – von der potenziellen Anfrage Sandras –
erzählte. Eine Verteidigung auf Zehenspitzen, angespannt bis in die
letzte Faser. Hier könnte alle Taktik ins Leere laufen. Noch lässt
sich nicht beweisen, dass es der Angeklagten um mehr als ein
„beschütztes Gespräch“ mit dem späteren Opfer ging. Der Zeuge hat
sich mit seinem Anwalt besprochen. Er würde gern helfen, aber er
möchte lieber nichts aussagen. „Hatten Sie Auslagen?“ „Herr Richter,
Sie wissen schon, wo ich herkomme?“
Mario
Dann: Mario. Er stützt im Wesentlichen das bereits von Sven G.
geschilderte Tatgeschehen. Er habe, sagt er, Sandra circa einen
Monat vor der Tat kennengelernt. Der Kontakt sei über seine Freundin
[N.] entstanden, die wiederum mit dem späteren Opfer wegen eines
Drogenproblems in der LVR-Klinik gewesen sei.
Schon vor der Aussage von Mario hatte des Gericht dessen Freundin
erlebt, die derzeit noch in Haft ist. „Ich werde nächste Woche
entlassen. Dann möchte ich den Mario so bald wie möglich heiraten.“
Vor diesem Hintergrund belehrt der Vorsitzende Richter die Zeugin,
dass sie das Recht hat, in diesem Fall gar nicht auszusagen. „Sie
sind die Verlobte des Angeklagten und müssen also gar keine Aussage
machen. Für uns bedeutet das, dass es Sie nicht gibt. Wenn Sie von
ihrem Recht Gebrauch macht, keine Aussage zu machen, darf das
Gericht diese Tatsache in keiner Weise werten.“
Mario M. schildert, dass er circa eine Woche vor der Tat von Sandra
und deren Problemen mit dem späteren Opfer erfahren habe. Ziemlich
schnell habe sich die Meinung festgesetzt, dass die einzige Lösung
darin bestehe, Mark zu töten. „Der hatte ja der Sandra gedroht,
ihrem Mann, ihren Eltern und den Tieren etwas anzutun. Zur Polizei
zu gehen, wäre keine Lösung gewesen.“ Teil des Planes sei gewesen,
dem Opfer eine tödliche Dosis Heroin zu spritzen.
Die Idee, dass man auch einen Baseballschläger einsetzen wolle, sei
erst auf der Fahrt zum Tatort erörtert worden. „Bevor wir dann zum
Haus kamen, hat es zwei Stopps gegeben.“ Bei beiden Stopps habe man
nochmals das Vorgehen besprochen. Er habe die Spritze mit dem Heroin
dabei gehabt. Als man am Haus angekommen und nach oben zum Zimmer
des Opfers gegangen sei, habe er sich ins Nebenzimmer begeben. „Der
Sven hat mit dem Baseballschlager links neben der Tür gestanden. Ich
weiß nicht mehr genau, ob die Sandra ins Zimmer gegangen ist, ob sie
den Mark gerufen hat. Jedenfalls hat der Sven, als der Mark aus dem
Zimmer kam, gleich zugeschlagen.“ Gesehen habe er das nicht. „Ich
war ja im Nebenzimmer.“ Vorsitzender: „Konnte denn der Mark den
Seven sehen, als er aus dem Zimmer kam?“ „Nein.“ [Das Opfer: Arg-
und wehrlos. Ohne Chance.) Mario A. weiß auch nicht, wo sich Sandra
während des Tatgeschehens aufhielt. „Ich glaube, die stand zunächst
an der Treppe.“ Er sei erst in Marks Zimmer gekommen, als der schon
auf auf dem Boden gelegen habe. Ob Mark irgendetwas gesagt hat,
möchte der Vorsitzende Richter wissen. „Der hat so was gesagt wie:
Was bist du denn für einer?“ Dass er, Mario, zu Sven gesagt haben
soll „Gib mir mal den Schläger“ kann Mario A. weder bestätigen noch
ausschließen. Fest steht für ihn: „Ich habe nur ein Mal zugeschlagen
und ich weiß nicht einmal, ob ich getroffen habe.“ Die Spritze habe
er dem Opfer nicht gesetzt. Da habe es eine Sperre in seinem Kopf
gegeben. Er habe den Kolben aus der Spritze gezogen, den Inhalt
auslaufen lassen und die Spritze dann auf den Tisch gelegt. Ja –
einen Satz mit dem Inhalt „Stirb wie ein Mann“ hat es gegeben, aber
Mario weiß jetzt nicht mehr, wer den Satz gesagt hat. Sven habe das
Opfer gefesselt. Kurz darauf „hat Sandra uns nachhause gefahren“.
Das Opfer habe noch geröchelt und sich bei der Fesselung geringfügig
gewehrt. Er habe, so Mario, die Hoffnung gehabt, „der Mann von
Sandra kommt nachhause und irgendwie kommt alles noch in Ordnung.“
Nach der Tat enden alle Töne. Das weitere Geschehen – eine Art
Stummfilm. „Keiner hat etwas gesagt.“ Sie sitzzen schweigend im
Auto. Erst am Folgetag ruft Sandra an und bittet Sven und Mario
nochmals um Hilfe. „Es ging darum, die Leiche in das Loch zu
schaffen. Als wir nach oben kamen, lag der Tote nicht mehr in dem
Zimmer, wo ich ihn zuletzt gesehen habe. Er lag jetzt auf dem Flur
und war mit einer Decke verhüllt.“ Man habe die Decke nicht mehr
abgenommen. „Wir haben den dann runtergetragen, in das Loch gelegt
und danach zugeschüttet.“
Man hört all das und bemerkt, dass auch Grausamkeit irgendwie taub
macht. Drei Mal ist die Tat geschildert worden, und längst hat eine
Form der Gewöhnung eingesetzt. Mario A. schildert alles sehr ruhig,
irgendwie besonnen – erweckt den Eindruck, dass er möglichst präzise
alles schildern möchte. Sagt, dass er all das aus heutiger Sicht
nicht verstehen kann. Von einem der beiden Gutachter befragt, wie
lange die Autofahrt zum Tatort ungefähr gedauert habe, schätzt Mario
„20 Minuten“. „Haben Sie während dieser Zeit auch daran gedacht,
einfach nicht mehr mitzumachen?“ Gedacht habe er daran. „Aber gesagt
habe ich nichts.“
Dass Sandra am Tatabend, nachdem sie die beiden Mittäter nachhause
gebracht hat, nochmal auf das Opfer eingetreten haben soll, weiß
Mario nur vom Hörensagen. Vor der Tat hat er sich regelmäßig sowohl
mit Sandra als auch mit Sven getroffen. Nachher seien die Treffen
immer seltener geworden. Nach seiner Beurteilung des Verhältnisses
von Sandra zum späteren Opfer befragt, sagt Mario: „Irgendwie ganz
normal freundschaftlich.“ Sandra und Sven – das sei ein
Techtelmechtel gewesen. Nach der Tat allerdings habe er den Eindruck
gehabt, „die Sandra war sauer auf den oder vielleicht auch
enttäuscht von ihm“.
„Zum Tatzeitpunkt haben Sie die Geschichte der Vergewaltigungen
geglaubt. Wie sehen Sie das heute?“, fragt der Vorsitzende Richter.
„Heute glaube ich das nicht mehr. Aber dieses Gefühl ist erst hier
in der Verhandlung entstanden.“ Am 4. November wird die Verhandlung
fortgesetzt.
4. Tag
Kontaminiert
Der Saal ist schon um 8.45 Uhr geöffnet. Auch die Fenster stehen
stehen offen. Einer der Gutachter schließt sie. Er stützt sich auf
der Fensterbank ab. Anschließend betrachtet er seine
Handinnenfläche. „Hier müsste mal Staub gewischt werden“, sagt er.
Dann: Eine kontaminierte Zeugin. Seit sechs Minuten sitzt sie mit
ihrem Mann – auch er soll befragt werden – im Saal. 9.20 Uhr: Das
Gericht tritt ein.
Der Vorsitzende Richter zählt Köpfe. „Alle da“, sagt er und beginnt
mit der Belehrung. Seitdem einer der Zeugen vom Vortag sich an
nichts mehr erinnert, hat sich die Belehrung erweitert. „Denken Sie
bei Ihrer Aussage daran, dass auch Sie einmal in die Lage kommen
könnten, auf eine richtige Aussage angewiesen zu sein“, sagt der
Vorsitzende Richter. „Wir beginnen dann mal mit Ihnen, Frau B.“ Herr
B. muss so lange nach draußen. Die Verteidigung meldet sich zu Wort.
Es geht um die Zeugin. Sie sei ein kontaminiertes Beweismittel, sagt
der Verteidiger. Es geht darum, dass B. – eine Freundin der
Angeklagten – am ersten Tag im Publikum saß. Um 9.24 Uhr geht das
Gericht ab. Es muss beraten werden. Um 9.40 Uhr der Beschluss des
Vorsitzenden: Die Zeugin wird gehört. Als sie am ersten Tag im
Zuschauerraum saß, war sie noch nicht als Zeugin vorgesehen. Dass
sie im Saal war, ändert nichts an der Aussage. Im Zentrum der
Aussage von Frau B. stehen zwei Punkte, die dem Gericht wichtig
sind. Es hat, im Sommer des Tatjahres – das Datum wird B.s Ehemann
später mit „Es war während der WM“ eingrenzen – ein Essen gegeben.
Sandra, ihr Mann und die Eheleute B. besuchten ein Restaurant, um
zusammen zu essen. Sie saßen zunächst draußen. Frau B.: „Es war aber
noch zu kühl. Wir sind dann ziemlich schnell rein gegangen.“ Während
die Ehepaare noch draußen sind, fragen Sandra und ihr Mann, ob die
B.s nicht jemandenkennen, der den Mario „wegmachen kann“. Das Wort
Mord oder Umbringen ist nie gefallen. Wenn Frau B. sagt, sie habe es
so verstanden, sagt sie auch: „Ich habe das nicht ernst genommen.“
Sie und Sandra: Zuerst bekannt, dann gute Freundinnen. Dann
zerstritten. Eine zeitlang haben sie sich täglich getroffen. Sandra
hat B. von ihren Problemen mit dem späteren Opfer erzählt.
Belästigungen. Dass diese Belästigungen auch sexueller Art waren,
hat B. nicht gewusst. Wenn sie Sandra besucht und dabei Mark
getroffen hat, erlebte sie einen ruhigen, freundlichen junger Mann.
Aber ab und an, wenn B. mit Sandra telefonierte, bekam sie mit,
„dass der ganz schön abgehen konnte. Der brüllte dann im
Hintergrund.“
Der Richter sagt, es sei ja heftig, dass man bei einem Essen
plötzlich gefragt werde, ob man jemanden kenne, der „einen
wegmachen“ könne. „Das erlebt man ja nicht alle Tage“, sagt der
Richter. Frau B.: „Das ist bei uns nichts Besonderes.“ (???) Es
stellt sich heraus, dass B. und Sandra öfter mal über „ihre Männer
klagen“. Auch sie führe, sagt B., eine „heftige Ehe“. Natürlich
werde da unter Mädels auch mal gescherzt, dass die Männer am besten
nicht mehr da wären. „Aber wir würden doch für die nicht in den
Knast gehen“, sagt sie. „Ich hatte Sie vorhin so verstanden, dass
Sie das ‘Wegmachen’ schon als Tötung verstanden haben“, sagt der
Vorsitzende. „Ich habe schon gemerkt, dass da eine Lösung gesucht
wurde, aber ich habe doch nicht an so was geglaubt.“
Irgendwann hat Sandra ihrer Freundin erzählt, der Mark sei jetzt
ausgezogen. Nach der Festnahme von Sandra und ihrem Mann bekam B.
einen Anruf von der Marios Freundin, die ja mittlerweile dessen
Verlobte ist. „Die Nadine hat mir dann erzählt, wie die Tat
abgelaufen ist.“ Richter: „Die N. hat Ihnen das erzählt?“ B.: „Ja.
Wir haben telefoniert. Circa 45 Minuten lang.“ Unter anderem hörte
B. von „der Nadine“, dass Sandra am Tatabend „irgendwann nach unten
ging, sich Stahlkappenschuhe anzog und dann das Opfer getreten“ hat.
Richter: „Hat denn der Ehemann von der Sandra Ihrer Kenntnis nach
von den sexuellen Belästigungen seiner Frau durch das Opfer
gewusst?“ „Der hat davon nichts gewusst.“ Richter: „Als es um das
Wegmachen ging – haben Sie und Ihr Mann da nicht ins Spiel gebracht,
man könne das Opfer auch anders loswerden?“ „Natürlich. Wir haben
gesagt: Geht doch zur Polizei. Die meinten aber, das würde nichts
bringen. DerMark würde doch zurückkommen. Der hat der Sandra
ja immer gedroht. Er wollte ihren Eltern, den Tieren und ihrem Mann
was tun.“ Richter: „Was war denn der Mark für ein Typ? Wir haben den
ja nicht erlebt.“ „Klein. Drahtig.“ Richter: „Und der Herr S. – wie
würden Sie den beschreiben?“ „Groß. Bullig.“
Das Verhältnis von B. und Sandra ist nach der Tat abgekühlt. „Die
Sandra hatte plötzlich kaum noch Zeit. Sie musste Marks Zimmer
renovieren. Der war ja ausgezogen. Ich habe gesagt: ‘Ich kann dir
doch helfen.’ Sie sagte, das würden ihre Eltern tun. Ich habe dann
irgendwann zwei Fotos von dem renovierten Zimmer geschickt
bekommen.“ Die Sandra habe für den einen der beiden Angeklagten
geschwärmt, sagt B., als der Vorsitzende sie fragt. „Das konnte ich
nicht verstehen. Gar nicht mein Typ.“ Ja – die Sandra habe dem
späteren Opfer auch schon mal Drogen besorgt. „Im Coffee Shop.“
Sandra habe ihre Ruhe haben wollen und deshalb die Drogen
herbeigeschafft. Fünf Minuten später sagt B., dass „der Mark“, wenn
er unter Drogen stand, nicht ausrechenbar gewesen sei.
Woher soll ich denn solche Leute kennen?
Herr B. ist Monteur. Er ist viel unterwegs – manchmal zwölf Stunden
am Tag. Wenn er zuhause ist, will er seine Ruhe. Sonst nichts. Er
hat sich bei dem Restaurantbesuch schon darüber gewundert, dass
Sandras Mann ihn fragt, „ob ich jemanden kenne, der den Tp wegmachen
kann“. B.: „Woher soll ich denn solche Leute kennen.“ Das meiste,
was B. über die Sandra, deren Mann und das spätere Opfer wusste, hat
er von seiner Frau gehört. „Hörensagen“, betont er immer wieder und
bezieht sich auf die Belehrung: „Wenn Sie etwas nur vom Hörensagen
wissen, dann müssen Sie das kenntlich machen.“ Natürlich hat auch
Herr B. die Wegmachfrage nicht wirklich ernst genommen. Wer denkt
denn an Mord? Richter: „Wurde denn ein Grund genannt, dass der Mark
weg muss?“ Zeuge: „Der hat Stress gemacht, wie der drauf ist. Die
haben sich gezankt. Angeblich war der auch gewalttätig.“
Längst fragt man sich, wer und wie dieses Opfer war? Ruhig, sagen
die einen, unberechenbar die anderen. Jähzornig, drogensüchtigt. War
Mark einer, der Sandra jaherlang sexuell und seelisch misshandelt
hat – einer, der eine Katze umbrachte und der Angeklagten drohte, er
werde ihr, ihren Eltern und ihrem Mann etwas antun? Das Wort Opfer
ruft in der Regel die Vorstellung des Wehrlosigeit hervor – aber es
ist eine Wehrlosigkeit im Augenblick der Tat – im Augenblick des
Todes. Wer war Mark?
Rechtskreistheorie
Was ist eigentlich mit Frau B.s Ausführungen bezüglich ihres
Telefonates mit der Verlobten des Angeklagten Mario? Früchte vom
verbotenen Baum sind es nicht. Sagen Zeugen gegenüber der Polizei
aus und machen später von ihrem Recht Gebrauch, beispielsweise aus
Ehefrau oder -mann nicht aussagen zu müssen, dürfen die Aussagen,
die im Vorhinein gemacht wurden, nicht verwendet werden. Dass die
Verlobte eines der Angeklagten der B. gegenüber etwas gesagt hat?
Einspruch ist nicht erhoben worden. Das Gericht müsse wissen, wie es
mit einer solchen Aussage umzugehen habe, sagt einer der
Verteidiger. Ein anderer verweist auf die Rechtskreistheorie.
[Die Rechtskreistheorie (auch: Schutzzwecktheorie oder
Normzwecktheorie) ist ein rechtswissenschaftlicher Maßstab im
Strafverfahrensrecht. Diese in der BGH-Rechtsprechung gründende
Theorie besagt, dass ein Angeklagter eine Revision wegen
Verletzung von Verfahrensvorschriften nur auf solche
Verfahrensvorschriften stützen kann, deren Schutzzweck seinen
Rechtsinteressen dient.
Beispiel: Wird ein Zeuge nicht ordnungsgemäß über ein ihm
zustehendes Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO belehrt,
das ihm etwa wegen seiner Eigenschaft als Arzt eines Dritten,
also nicht des Angeklagten, zusteht und macht darauf dieser
Zeuge eine belastende Aussage, kann der Angeklagte
Verfahrensfehler nicht rügen. Die Zeugnisverweigerungsvorschrift
des § 53 StPO schützt den Patienten, nicht aber den Angeklagten.
Auch ein Verstoß gegen das Auskunftverweigerungsrecht nach § 55
StPO und ein Verstoß gegen körperliche Untersuchungen nach § 81c
StPO fallen nicht in den Rechtskreis des Beschuldigten. § 81c
StPO dient nur dem Schutz der Gesundheit des Beschuldigten.
Anders dagegen § 52 StPO. Dieser dient unter anderem dem Schutz
der Familienbande und fällt daher in den Rechtskreis des
Beschuldigen / Angeklagten. Auf diese Grundsätze kann er jedoch
nicht nur beim Rechtsmittel der Revision verwiesen werden,
sondern in jedem Stadium des Verfahrens. Bei der Frage, ob ein
Beweiserhebungsverbot auch ein Beweisverwertungsverbot nach sich
zieht, ist die Frage zu stellen, ob das Beweiserhebungsverbot,
gegen das verstoßen wurde, den Rechtskreis des Beschuldigten
sichern soll.]
Nach der Vernehmung von Herrn B. bekommt die Kammer eine Anregung
von einem der Verteidiger. „Herr Vorsitzender, Sie hatten ja
angekündigt, heute wieder eine Vorlsesestunde abzuhalten. Ich möchte
ein Selbstleseverfahren anregen.“ Ein bisschen klingt das wie ein
Gnadengesuch. Man hat noch die vorgelesenen Urteile des ersten
Verhandlungstages im Hinterkopf. Es ist 10.22 Uhr. „Wir machen mal
20 Minuten Pause“, sagt der Vorsitzende und erhöht auf 30.
Um 11.12 Uhr verkündet der Vorsitzende, man werde das
Selbstleseverfahren auf die Telekommunikationsprotokolle anwenden
und „heute nur noch zwei Gutachten verlesen. Das hätten wir ohnehin
gemacht.“ Die Gutachten beziehen sich auf Blutspuren einerseits und
die Suche nach Rückständen von Drogen und oder Medikamenten. Das
DNA-Gutachten wird von Erklärungen umrankt, die das Hinhören nicht
eben erleichtern. Dies und jenes wird erklärt. Methoden werden
vorgestellt. Die Blutanhaftungen am Laminat (Nut) erweisen sich als
Blut des Opfers. Das Blut an der Stereoanlage stammt von einem der
Angeklagten. Bei dem Gutachten in Sachen Drogen und Medikamente wird
von einer „Leiche im fäulnisfortgeschrittenen Zustand“ gesprochen.
Außer den Schädelverletzungen wurde ein gebrochener Unterarm
festgestellt, der wohl als „Parier-Fraktur“ gesehen werden muss.
Dann bewältigt der Richter mit Bravour einen minenfeldgleichen
Fremdwortparcours. Lieber würde man vielleicht doch
Telefonüberwachungsprotokolle gehört haben.
Nach dem Vorlesen der Gutachten gibt es noch Anregungen seitens der
Verteidigung. Ein Blutspurengutachten könne man in Auftrag geben, um
festzustellen, dass es womöglich wesentlich mehr Schläge gegeben
habe als bisher erwähnt. Beamte der Spurensicherung könnten gehört
werden. Das Gutachten bezüglich des Mageninhalts könnte verlesen
werden. Nach einer weiteren Unterbrechung verliest der Vorsitzende
den Bericht zum Mageninhalt des Opfers. Ansonsten wird „den
Anregungen des Herrn Verteidigers“ erst einmal nicht entsprochen.
Ein schönes Wochenende.
5. Tag
Die unsichtbare Vierte
Läss man sich auf die Planung des Gerichts ein, ist das hier der Tag
vor dem Urteil. Zeugenaussagen sind geplant. Gutachten sollen
folgen. Plädoyers vielleicht. Erstens kommt es anders ...
Der Tag beginnt mit zwei Kriminalbeamten. Die erste Aussage ist nach
vier Minuten beendet. Der Beamte hat Festnahmen mitgemacht und war
ansonsten nicht in die Ermittlungen eingebunden. „Hatten Sie
Auslagen?“ „Nein.“
Der zweite Beamte hat unter anderem „den Polen“ vernommen. An einem
Punkt seiner Aussage erwähnt er, „der Pole“ habe erzählt, „die
Sandra und die N. – die Verlobte des Angeklagten Mario A. – hätten
am Tattag versucht, das Opfer aus seinem Zimmer zu locken. Haltstop.
Wer? Erstmals ist der Tatort mit dem Opfer und vier weiteren
Personen bevölkert. N. am Tatort? Wieso hat man vorher nichts
darüber gewusst. Irgendjemand wird darauf eingehen, denkt man sich.
Irgendetwas muss jetzt passieren. „Noch Fragen an den Zeugen?“
Stille. Der Beamte verlässt den Gerichtssaal. Jetzt ist es an der
Zeit für die erste Person Singular. Ich folge dem Beamten auf den
Gang. „Sie haben gerade bei Ihrer Aussage die N. erwähnt.“ „Sie sind
von der Presse?“ „Ja.“ „Sprechen Sie mit dem Staatsanwalt. Ich kann
dazu nichts sagen.“ „Aber Sie haben doch gerade etwas dazu gesagt:
Ich hab’s aufgeschrieben.“ „Sprechen Sie mit dem Staatsanwalt.“
Niemand, erfahre ich später, niemand geht davon aus, dass N. am
Tatort war. Es gibt nur diese eine Aussage. Auch einer der
Verteidiger sieht das so. „Wir gehen alle davon aus, dass N. nicht
am Tatort war.“ Auch der Pole hat in seiner Vernehmung N. nicht
erwähnt. Warum eigentlich nicht? „Zum Beispiel hat niemand ihn dazu
befragt“, sagt einer der Verteidiger. N. war also nie am Tatort.
Auch das Gericht hat nicht nachgefragt.
Video
Ein weiterer Kripomann sagt aus. Er hat am Tag nach der Festnahme
die Rekonstruktion der Tat mit der Angeklagten durchgeführt – war
mit ihr am Tatort. Es gibt einen Film. Alles ist dokumentiert.
Erstmals also betritt die Öffentlichkeit das Tathaus. Sie sieht den
Kripomann mit Sandra S. in der Küche stehen. Die Atmosphäre: Ruhig
sachlich. Die Angeklagte zeigt den Weg, den sie am Tattag mit den
beiden Männern (N. war nie da!) gegangen ist. Treppauf geht es. Dort
stehen Kartons und anderes Zeug. „Das alles war damals nicht hier“,
sagt die Angeklagte. Der Kripomann hat noch im Erdgeschoss gefragt,
wo der Baseballschläger gestanden hat. Sandra S. hat ausgesagt, dass
„der Sven sich den genommen hat“. Der Schläger: An die Heizung
gelehnt. Nein, Sandra S. hat, sagt der Kripomann, ausgesagt, sie
habe Sven den Schläger nicht gegeben. Er habe ihn genommen. Oben
wird die Situation weiter nachgestellt. Der Kripomann hat eine
Papprolle zur Tatwaffe gemacht und mit nach oben genommen. Sie
stehen vor der Tür zum Zimmer des Opfers. „Der Sven hat links von
der Tür gestanden. Der Mark konnte ihn nicht sehen.“ Mario war in
einem anderen Zimmer – rechts vom Zimmer des Opfers. Jetzt ist nicht
mehr klar, ob Sandra angeklopft und Mark zum Herauskommen bewegt
oder ihn einfach herausgerufen hat. Sandra erklärt, wo Mark vom
ersten Schlag Svens getroffen wurde. Marks Mutter verlässt den Saal.
Ihre Leidensfähigkeit ist an ein vorläufiges Ende gekommen. Sandra
erzählt, wie und wohin Mark nach dem ersten Schlag getaumelt ist.
Der Beamte in Opferrolle legt sich bäuchlings auf den Boden. Sandra
hat Marios Aktionen nicht mehr gesehen. Sie hat – auf dem
Treppenabsatz stehend – nur noch Geräusche gehört. Rückblende: Mario
hat ausgesagt, einen Schlag geführt zu haben. Er wisse nicht, ob er
das Opfer oder nur den Boden getroffen habe. Der Schläger jedenfalls
sei zu Bruch gegangen.
Einen Beamten des Erkennungsdienstes hatte das Gericht gefragt, ob
auf dem Laminatboden Schlagspuren festgestellt worden seien. „Nein.“
Für Marios Verteidigung rechtfertigt die Abwesenheit von
Schlagspuren auf dem Boden keinesfalls die Annahme, sein Mandant
müsse folglich das Opfer und nicht den Boden getroffen haben. Über
dem Laminat lag Teppichboden. Später wird Marios Verteidiger ein
Gutachten beantragen, bei dem es genau um diesen Punkt geht. Nein,
sagt der Verteidiger, er wolle nicht unnütz Geld ausgeben. Auch
wolle er den Prozess nicht unnötig in die Länge ziehen, aber es sei
schon wichtig, dass festgestellt werde: Selbst wenn sein Mandant den
Boden und nicht das Opfer getroffen habe – selbst wenn dabei der
Schläger zu Bruch gegangen sei, bedeute das keineswegs, dass es
deswegen Spuren auf dem Boden hätte geben müssen. Das Gericht
braucht einen Moment um zu realisieren, was der Verteidiger meint,
wenn er sagt, dass die Abwesenheit von Spuren nicht bedeutet, dass
es keinen Schlag auf den Boden gegeben habe. „Entschuldigen Sie die
doppelte Verneinung. Man hätte das auch einfacher formulieren
können.“
In der Rekonstruktion ist Sandra mittlerweile auf dem Weg nach
unten. Das Video ist aufgenommen, bevor in der Einfahrt nach dem
Toten gegraben wird. Am Ende fragt der Kripomann Sandra S., ob sie
noch ergänzende Angaben machen wolle, bevor die Aufzeichnung beendet
werde. Sie habe das nicht gewollt, sagt Sandra. Die Aufnahme stammt
vom 9. Januar. Zehn Monate sind vergangen. Sandra, sagt der
Kripomann, habe auch in der Vernehmung gesagt, es sei um ein
Gespräch gegangen. Das Gericht sieht Widersprüche. Zuerst habe
Sandra sich niemandem anvertraut, weil das spätere Opfer sie, ihren
Mann, ihre Eltern und die Tiere bedroht habe. Dann der Entschluss:
Nun mit ihm zu reden – sich Mario und Sven anzuvertrauen. Das passe
doch nicht zusammen. Auch der „goldene Schuss“ passe nicht zur
„Gesprächsthese“. Vorsitzender Richter: „Hat Frau S. etwas dazu
gesagt?“ Kripomann: „Diese Widersprüche konnte Frau S. auch in der
Vernehmung nicht aufklären. Wir haben sie natürlich dahingehend
befragt.“ In der Schilderung des Kripomannes haben Mario und Sven
nicht nur beim Tragen des Leichnams in das von Louis ausgehobene
Loch geholfen – jetzt haben sie auch mitgegraben. Ein Verteidiger
möchte wissen, ob man Sandra S. danach gefragt habe, ob das Opfer
beim Transport von der ersten Etage nach unten noch gefesselt
gewesen sei. Man hat nicht danach gefragt. Sandra S. habe in Bezug
auf die Tat mehrmals geäußert, die Sache sei „aus dem Ruder
gelaufen“. Sie sei am Tatabend nicht mehr im Zimmer des Opfers
gewesen. Sie habe am nächsten Tag „auf einem Grill“, Tapetenfetzen,
Teppichreste und den Baseballschläger verbrannt. Die Aussagen, die
Sandra S. bei ihrer ersten Vernehmung und am Folgetag bei der
videografierten Rekonstruktion gemacht habe, seien, sagt der
Kripomann, deckungsgleich gewesen. „Wir machen dann mal eine Pause
und lassen das sacken“, sagt der Vorsitzende.
Danach: Wieder einmal ein Urteil aus früheren Tagen. Wieder einmal
das Leben des Sven. Wieder einmal die Aussichtslosigkeit am Start.
Jetzt steuert das Gericht langsam die Gutachten an und somit auch
das Ende der Beweisaufnahme. Ein Ende ist in Sicht. Der Vorsitzende
Richter fragt, ob es noch Beweisanträge gib. Es gibt sie. Die
Verteidigung von Sandra S. möchte zwei weitere Kripoleute hören. Die
Einlassungen von Mario A. bei der ersten Vernehmung sollen verlesen
werden. Es gibt Widersprüche. Die Verteidigung von Mario A. sieht
das anders. Man könne, sagt der Staatsanwalt, die Einlassung
vielleicht als Vorhalt einbringen und den Angeklagten dann dazu
befragen. A.s Verteidigung sieht das anders. Mario A., sagt der
Verteidiger, sei mit der Verlesung des Protokolls nicht
einverstanden.
Das Gericht möchte zunächst den ersten der beiden Gutachter hören.
Er hat sich mit Sven G. beschäftigt. Zwei Termine hat es dazu
gegeben. Der Gutachter sieht eine auffällig frühe kriminelle
Entwicklung. Er spricht davon, dass Sven G. einer sei, der die Dinge
gern kontrolliere. Einer, für den Muskelaufbau ein Zeichen der
Selbstsicherheit sei. Einer, der der sich selbst als „eine Art
Sozialarbeiter“ beschreibt. Man kämpft gegen das Gefühl, das hier
vor dem inneren Auge ein Holzschnitt entsteht. Der Gutachter spricht
von Tests, von Punkten. Spricht von einem antisozialen Menschen mit
psychopatischen Zügen – kommt zu dem Ergebnis das Sven G.
keinesfalls schuld- oder steuerungsunfähig war. Kein Hinweis auf
Intoxikation oder Entzug- Paragrafen marschieren vorbei.
Strafgesetzbuch, Paragraf 20: Schuldunfähigkeit wegen seelischer
Störung: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen
einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden
Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren
anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat
einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“
Paragraf 21: Verminderte Schuldfähigkeit: Ist die Fähigkeit
des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser
Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei
Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach §
49 Abs. 1 gemildert werden.
Paragraf 63: Unterbrinung in einem psychiatrischen
Krankenhaus. Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der
Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit
(§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung
des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines
Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er
deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Paragraf 64: Unterbrinung in einer Entziehungsanstalt: Hat
eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere
berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie
wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat
oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb
nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder
nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung
in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht,
dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten
begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend
konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in
einer Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche
Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der
Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf
ihren Hang zurückgehen.
All das wird erörtert. Längst ist die Verteidigung von Sven G.
unruhig geworden – dem Gutachter sogar ins Wort gefallen. An einer
Stelle benutzt der Gutachter das Wort „natürlich“ an verräterischer
Stelle. Dann erwähnt er eines der früheren Urteile. Es gab eine
Straftat, bei der ein Baseballschläger im Spiel war. Die
Beschreibung des Gutachters deutet an, G. habe den Schläger in der
Hand gehabt. Sie deutet an, Leute wie G. seien womöglich an den
Umgang mit Gewalt gewöhnt – seien irgendwie „heiß darauf“. Das
Urteil, so die Verteidiger, sage nichts darüber, das Sven G. den
Schläger in der Hand gehabt habe. Die Verhandlung wird unterbrochen.
Es geht darum, die entsprechenden Stellen im Urteil zu finden. Der
Gutachter, argumentieren die Verteidiger von Sven G., habe
„schwerwiegende und unzutreffende Schlussfolgerungen“ gezogen.
Nachzuvollziehen ist das. Wahrscheinlich, denkt man, würde jeder
andere Gutachter, mit Blick auf die Schuldfähigkeit zu sehr
ähnlichen Ergebnissen kommen, aber ein paar der hier gehörten
Argumente wirken „herbeigeschafft“. Man kann die Sorge der
Verteidiger verstehen. Würden sie hier nicht eingreifen, würden sie
nicht sagen, ihr Mandant befürchte die Voreingenommenheit – sie
wären schlechte Verteidiger. Längst ist klar geworden, dass dieser
Prozess den gesteckten Fahrplan nicht wird halten können. „Nach der
Mittagspause zücken sie alle Ihre Terminkalender. Wir werden
mindestens zwei weitere Termine brauchen“, sagt der Vorsitzende.
Wenn acht Anwälte, zwei Gutachter und ein Nebenklagevertreter nach
Terminen suchen, wird die Sache schwierig. Fast 40 Minuten braucht
der Richter, um mit allen Beteiligten drei weitere Termine zu
finden. Alle weiteren Sitzungen finden jetzt nachmittags statt. Für
die Eltern des Opfers eine Enttäuschung. Ihre Fähigkeit, all dem
hier zu folgen, um zu einem Abschluss des nicht Abschließbaren zu
kommen, schrumpft mit den Tagen. Die unablässige Wiederholung führt
für die einen zum Stumpfwerden der Sinne, zu Versachlichung des
Unsagbaren – für die Eltern des Opfers türmt sich der Schmerz. Die
Erwartung, dass der Prozess nun noch mindestens zwei Wochen
andauert, ist eine zu ahnende Strapaze. Das Gericht hat sein
Tagespensum abgearbeitet. „Wir werden morgen über die Anträge
entscheiden.“ Morgen – ein Tag ohne Gutachter, ohne Zeugen. Ein Tag
ohne Handlung.
Der Kollege von der „Zeit“ ist morgens um irgendwas nach drei in
Berlin in den Zug gestiegen, bis Duisburg gefahren und dann mit dem
Leihwagen weiter bis nach Kleve. Ab und an in den Pausen entfährt im
ein Gähnen. Nein, Kaffee trinkt er nicht, sagt er. Wahrscheinlich
sei er einer von fünf Journalisten, die keinen Kaffee trinken. Tee?
„Nur wenn ich krank bin.“ Tagsüber: Kalte Getränke – Wasser, Cola,
Bionade. Abends gern mal ein Bier. Der Kollege bereist die Republik
in Sachen Grausamkeit. „Gerichts- und Kriminalreporter“ steht auf
seiner Karte. Heute Kleve, morgen München, übermorgen ... Es geht ja
nicht um die Stadt. Es geht um die Prozesse. Natürlich. Dieser hier
hat alle Ingredienzien – lässt kaum etwas aus. Das Bösartignormale
kann besichtigt werden. In seiner ganzen monströsen Banalität.
Vielleicht, denke ich, könnte man’s verfilmen. Im Kopf stehen die
Bilder abrufbereit. Aber Bilder allein sind kein Film. Das hier böte
den Stoff für Dokumentarisches. Menschen, die sich ins Vederben
graben, nach Motiven suchen, Spuren, Hinweisen ... Wie schön könnte
man zeigen, dass, was zu sehen ist, hauptsächlich von der Position
des Betrachters definiert wird. Sandra S.s Verteidiger findet, der
Gutachter habe einen guten Job gemacht. Sei stringent gewesen. Habe
sich auf nichts eingelassen. Die Verteidiger von Mario A. sehen es
anders.
Dass Gericht und Anwälte nicht einmal zucken, als am Tatort in der
Aussage des zweiten Kripomannes eine vierte Person auftaucht – dass
einige sagen, es sei doch nach Aktenlage ganz klar, dass das nicht
richtig sei – ist schwer einzuordnen. Zumindest die Schöffen, die –
genau wie Publikum und Prozessbeobachter ohne Aktenkenntnis sind –
hätten sich wundern, vielleicht auch nachfragen können. „Wissen Sie
– es steckt so viel Quatsch in den Akten“, sagt einer der
Verteidiger. „Was haben wir nicht alles gehört. Nehmen Sie die
Aussage, man habe das Opfer zum Ausbluten aufgehängt?“ Trotzdem,
möchte man sagen: Es sind ganz andere „Kleinigkeiten“ besprochen und
aufgedröselt worden. Warum nicht diese unsichtbare Vierte?
Stattdessen werden Zeugen geladen, die nicht mehr angeben, als Name,
Alter, Dienstort und Dienstgrad, bevor sie (der erste Zeuge des
Tages) entlassen werden, weil schnell fest steht, dass sie nicht
beizutragen haben. Dann kommt einer, der N. an den Tatort erzählt,
indem er die Aussage des Polen zitiert und ... nichts passiert.
6. Tag
Die Sitzung beginnt soll um 10 Uhr beginnen. Es wird 10.14 Uhr, bis
das Gericht erscheint. Es gilt, über Anträge zu befinden. Da ist der
Antrag bezüglich der widersprüchlichen Aussagen von Mario. Der
Vorsitzende Richter möchte vor der Entscheidung ein paar Dinge
klären. Im Dialog mit dem Richter räumt Mario ein, dass das in der
polizeilichen Vernehmung Gesagte durchaus richtig sei, dass er aber
im Nachhinein noch weitere Details erinnere. Die von ihm in der
Hauptverhandlung eingeräumten zwei Stops auf der Fahrt zum Tatort
sind Teil dieser nacherinnerten Fakten. Im Vernehmungsprotokoll
tauchen sie nicht auf. Damals hat Mario den Satz „Stirb wie ein
Mann“ Sven zugeordnet. Jetzt ist Zuordnung nicht mehr möglich. „Ich
weiß aber, dass dieser Satz gesagt worden ist.“ Es gelte das, was er
in der Hauptverhandlung gesagt habe. Damit gibt sich Sandra S.s
Verteidigung nicht zufrieden. Zwei weitere Kripobeamten sollen
gehört werden. Am Ende einigt man sich auf einen Zeugen, da der
andere schwer erkrankt und nicht in der Lage sei, am nächsten Termin
teilzunehmen.
Marios Verteidiger gibt eine Erklärung ab. Es geht um eine Belehrung
der Angeklagten. Die Verteidigung sieht es so, dass nun auch eine
Anklage wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge in Betracht
gezogen werden müsse. Den Antrag von A.s Verteidigung bezüglich der
nicht vorhandenen Schlagspuren auf dem Laminat weist des Gericht
zurück und weist darauf hin, dass im Antrag selbst davon ausgegangen
werde, dass nicht vorhandene Schlagspuren nicht ausschließen
könnten, dass A. sein Opfer verfehlt und der Schläger beim
Auftreffen auf den Boden zu Bruch gegangen sei. Das Gericht weist
darauf hin, dass auch beides zutreffen könne – der Beweisantrag also
nicht weiterführe.
Dann: Die Befangenheit des Gutachters. Wieder wird unterbrochen. Die
Verteidigung wartet auf die Übermittlung des entsprechenden Urteils.
Es ist einer der Tage, an denen die Pausenzeiten das prozessuale
Geschehen bestimmen. Der Befangenheitsantrag wird abgelehnt. Eine
Voreingenommenheit des Gutachters kann das Gericht nicht entdecken.
Der Staatsanwalt meldet sich zu Wort. Für die Anklage komme nun auch
in Betracht, eine rechtliche Belehrung bezüglich der besonderen
Schuldschwere im Fall der Angeklagten Sandra S. vorzunehmen. Zum
einen habe sie aus Sicht der Anklage die beiden Angeklagten Sven und
Mario quasi also Tatwerkzeuge instrumentalisiert. Es hätten aus
Sicht der Anklage keine Vergewaltigungen stattgefunden. Die
Angeklagten Sven und Mario seien aber durch eben diese Schilderungen
zu ihrer Tat „motiviert“ worden. Zum anderen sehe es die Anklage
mittlerweile als erwiesen an, dass Sandra eine weitere Tötung,
nämlich die des Polen geplant habe. Sandras Verteidiger stellt
unmissverständlich klar, dass, sobald es um die Feststellung der
Schwere der Schuld gehe, er gemäß Paragraf 265 der
Strafprozessordnung eine Aussetzung des Verfahrens beantragen werde.
§ 265: Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes oder der
Sachlage: (1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen
als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten
Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die
Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders
hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden
ist.
(2) Ebenso ist zu verfahren, wenn sich erst in der
Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände
ergeben, welche die Strafbarkeit erhöhen oder die Anordnung
einer Maßregel der Besserung und Sicherung rechtfertigen.
(3) Bestreitet der Angeklagte unter der Behauptung, auf die
Verteidigung nicht genügend vorbereitet zu sein, neu
hervorgetretene Umstände, welche die Anwendung eines schwereren
Strafgesetzes gegen den Angeklagten zulassen als des in der
gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten oder die zu den im
zweiten Absatz bezeichneten gehören, so ist auf seinen Antrag
die Hauptverhandlung auszusetzen.
(4) Auch sonst hat das Gericht auf Antrag oder von Amts
wegen die Hauptverhandlung auszusetzen, falls dies infolge der
veränderten Sachlage zur genügenden Vorbereitung der Anklage
oder der Verteidigung angemessen erscheint.
Schon diskutieren die Prozessbeteiligten, ob weitere
Termine vonnöten sein werden. Richter: „Wir haben noch das
letzte Viertel des ersten Gutachtens zu hören, danach folgen
zwei weitere Gutachten, es wird ein weiterer Zeuge vernommen und
dann hören wir acht Plädoyers.“ (Es plädieren: Die
Staatsanwaltschaft, die Nebenklage und sechs Verteidiger.) Acht
Mal wird wieder die Tat besichtigt werden. Zum neunten und
letzten Mal wird das Gericht bei seiner Urteilsbegründung das
gesamte Geschehen noch einmal ablaufen lassen.
Architekturen II
Die Berichterstattung über einen Prozess ist vergleichbar mit
Sportberichterstattung. Die drei Minuten, die von einem Spiel in der
Zusammenfassung übrig bleiben, können mit Höhepunkten spielen. Sie
können Spannung zeigen und – falls es keine gibt – Verflachung.
Entwicklung findet notgedrungen nicht statt. In der Zeitung fehlt es
am nötigen Platz. Was am Ende abgebildet wird, ist ein Prozess ohne
Entwicklung – eine Art Start-Ziel-Berichterstattung, die mit der
Verlesung der Anklage beginnt und mit der des Urteils endet. Urteile
sind am Ende die Pflaster für verletzte Gerechtigkeiten. Sie geben
dem oft nichtanwesenden Volk das beruhigende Gefühl: Unrecht zahlt
sich nicht aus. Was im Gerichtssaal wirklich passiert, ist oft nicht
nachvollziehbar. Natürlich macht es einen Unterschied, ob ein Täter
selbst zum Baseballschläger greift oder ob er den Schläger in die
Hand gedrückt bekommt. Natürlich ist es wichtig, ob ein Opfer noch
lebte, als die Täter den Tatort verließen. Fand Sandra S. am
Tatabend, nachdem sie die Mittäter weggebracht hatte, einen
Sterbenden vor oder war das Opfer längst tot? Auf dem Battleground
der Justiz werden Scharmützel ausgetragen. Es geht um Feinheiten –
es geht um die Dinge, die am Ende den Unterschied machen. Er kann
klein sein oder riesig. Geht es um Mord oder schwere
Körperverletzung mit Todesfolge? Geht es um Mord oder um das
Feststellen einer schweren Schuld. Geht es um Lebenslänglich oder
weniger? Am Ende haben drei Profirichter und zwei Schöffen die
Aufgabe, ein Urteil zu finden und zu fällen. Gibt es Zweifel
an der Schuld? Was lässt sich beweisen, was nur schlussfolgern. All
das findet keinen Platz in der Berichterstattung. Es bleibt
kaum Platz, den Beziehungen nachzugehen, die sich im Lauf einer
Verhandlung ergeben. Die da verhandlungstagelang in einem Raum
hocken und einer Geschichte folgen, interagieren nicht nur während
der Verhandlung. Die Kantine ist klein. Essen müssen alle. Auch vor
dem Kaffeeautomat kann Gespräch stattfinden. Wer schreibt, kommt
früh und schaut hin. Da sitzt einem Mann mit Aktenkoffer auf dem
Gang. Den Koffer hat er auch die Knie gelegt. Er putzt sich die
Nase. Danach legt er das Taschentuch – es ist ein Stofftaschentuch –
auf den Koffer, faltet es mit Akribie zusammen, indem er mit dem
Handrücken die Faltkanten bestätigt und verstaut das Tuch dann
wieder in der Hosentasche.
Ein Anwalt, der sich selbst inszeniert. In der Schule würden sie ihn
den Klassenclown nennen. Er flachst auch, als das
gerichtsmedizinische Gutachten abgeben wird. Ist das
Nichtaushaltenkönnen von Grausamkeiten oder ist es
Nichteinfühlenkönnen in den Schmerz der Opfereltern hinten im Saal?
7. Tag
Überdruss
Freitag, der 13. November. Der Sitzungstag beginnt – wie alle
anderen – mit Verspätung. Planmäßiger Beginn: 13 Uhr. Um 13.18 Uhr
betritt die Kammer den Saal. Ein Zeuge steht auf dem Programm.
Danach: Gutachten. Längst hat der Prozess einen Punkt erreicht, an
dem man jede weitere Verzögerung als Schmerz spürt. Ist nicht alles
gesagt, alles gedacht, alles gefragt? Die Verteidigung von Sandra S.
hatte um einen weiteren Kripomann gebeten. Eigentlich waren zwei
geplant. Einer ist schwer erkrankt. Der Zeuge des Tages hat keine
der Vernehmungen selbst geführt – er „war zugegen“. „Da Sie Polizist
sind, kann ich mir eine aufwändige Belehrung sparen“, sagt der
Richter. Nochmal geht es um den Tattag. Wieder einmal wird über den
Baseballschläger geredet. Der Kripomann war bei der Vernehmung von
Mario A. zugegen. Er hat nicht selber Fragen gestellt. Aber er
erinnert sich an manches. „Sandra S. hat dem Sven den Schläger in
die Hand gedrückt“, heißt es jetzt wieder. Das, erinnert der
Kripomann, hat Mario A. gesagt. Von Stops während der Fahrt zum
Tatort war nicht die Rede. Für die Verteidigung von Sandra S. geht
es darum, Widersprüche aufzuzeigen. Die Tat ist mal so, mal anders
passiert. Schon damals im Januar hat Mario A. allerdings von nur
einem Schlag gesprochen. Schon damals hat er gesagt, er wisse nicht,
ob der den Mann oder den Boden getroffen habe. Schon damals die
Fassungslosigkeit angesichts des eigenen Handelns. Schon damals war
von einem Plan die Rede. Das Opfer „sollte weg. Sie war seiner
überdrüssig“. Sie – das ist die Angeklagte; „seiner“ – das ist
das Opfer. Der Richter fragt nochmals nach den Stops auf der
Fahrt zum Tatort. „Stops hat es definitiv nicht gegeben.“ „Haben Sie
danach gefragt?“ „Nein.“ Die Angeklagte – in der Vernehmung des
Mario A. tritt sie während der Tat stumm auf. Der Satz „Stirb wie
ein Mann“ – gesagt, erinnert. Die Verteidigung hakt sich ein: Mario
A. soll im Nebenraum gewesen sein. Trotzdem beschreibt er ein
Geschehen. Die Verteidigung von Sandra S. könnte Mario A. fragen –
der allerdings würde nicht anworten. Der Kripomann kann es nicht
wissen. Als die Vernehmung beendet ist, beantragt der Verteidiger
nochmals die Verlesung des Vernehmungsprotokolls. Einen Augenblick
lang kippt die Stimmung zwischen Verteidigung und Staatsanwalt ins
Aggressive. Es geht darum, ob laut Strafprozessordnung die
Verlesung eines Vernehmungsprotokolls möglich ist oder nicht. Das
Scharmützel ist kurz und für Laien nicht nachvollziehbar. Zahlen
werden genannt. Unmöglichkeiten werden diskutiert. Begründungen
werden abgefragt. Die Verteidigung öffnet die Schießscharten: „Wir
müssen hier gar nichts begründen.“ Das Gericht lässt wissen, dass
die Verlesung des Protokolls nicht unmöglich ist, verlässt um 13.50
den Saal (zur Beratung), kehrt um 14.20 zurück und lehnt den Antrag
danach ab.
Ein kurzer Nachschlag zum ersten Gutachten – danach: Ein weiterer
Gutachter mit zwei weiteren Gutachten. Sandra S. und Mario A. auf
dem Seelenprüfstand. Der Gutachter arbeitet schematisch. Auf dem
Gang hat er gesagt, dass die Schöffen seine zentralen
„Ansprechpartner“ sind. Sie müssen es verstehen. Es beginnt immer
mit dem FPI. Das steht für „Freiburger Persönlichkeitsinventar“ und
klingt irgendwie nach einer Seelenmöblierung. Gutachten haben ein
Ziel: Es geht am Ende um Paragrafen. Es geht darum, dass einer dem
Gericht erklärt, ob die „Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit“ während
der Tat getrübt war oder nicht. Es geht um den Gegensatz von
Schuldfähigkeit und -unfähigkeit. Zwei Paragrafen umkreisen die
alles entscheidenden Begriffe.
§ 20 – Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen. Ohne
Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften
seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden
Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren
anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat
einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
§ 21: Verminderte Schuldfähigkeit. Ist die Fähigkeit des
Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht
zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei
Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach §
49 Abs. 1 gemildert werden.
Fantasie und Wirklichkeit
Zweimal 70 Minuten lang umkreist der Gutachter alle relevanten
Details. Zweimal kommt er am Ende zu dem Ergebnis, dass keine
verminderte Schuldfähigkeit vorliegt. Der Weg ins Ziel führt durch
ein Dickicht von Analysen. Zuerst bereisen die Prozessbeteiligten
die Seele der Angeklagten Sandra S. Am Ende des Gutachtens sagt der
Kollege von der Zeit, ihm fehle die Frage nach den
Manipulationsfähigkeiten der Angeklagten in bezug auf ihre Mittäter.
Da schafft es eine Frau, zwei Männer in eine Tat zu führen und man
fragt sich, wie so etwas möglich ist. Der Gutachter sieht S. als
traumatisiert. Ihr ist schon in der Jugend Gewalt angetan worden.
Muss man die Vergewaltigungen glauben? Auch das bleibt ungeklärt.
Ein Glaubwürdigkeitsgutachten? Niemand redet davon. Die Angeklagte:
Lebensunzufrieden. Dasselbe wird nachher auch über Mario A. gesagt.
Sandra S.: Sozial engagiert, versehen mit einer depressiven
Grundhaltung, ohne spontane Aggressivität aber mit deutlich erhöhten
Werten in Richtung einer Borderlinestörung, wenig nachtragend, aber
instabil, nicht warmherzig und unterdurchschnittlich liebenswürdig.
Was, denkt man, würde wohl dabei herausgekommen sein, wenn der
Gutachter dein Leben betreten hätte. Jetzt säße er da und spräche
über dich. Die Möblierung der eigenen Seele. Aber er spricht über
Sandra S.: Überdurchschnittlich hilfsbereit, unterdurchschnittlich
optimistisch und liebenswert, extrem polarisiert. „Natürlich gibt es
viele solcher Menschen, aber die meisten von ihnen kommen gut durchs
Leben.“ In Sandra S.s Leben gibt es wenig Grautöne. Alles ist
schwarz oder weiß. Sie misstraut anderen. Immer wieder thematisiert
der Gutachter Sandras Schwierigkeiten auf der Grenzlinie zwischen
Fantasie und Wirklichkeit. Immer wieder ist die Rede von einer
„Borderline-Struktur“ und von wenig Eigenwahrnehmung. Was noch:
Deutlich traurig, manchmal etwas theatralisch, deutlich manipulativ.
Das Verhältnis zum Opfer beschreibt sie dem Gutachter als „der war
wie ein Sohn für mich“. Schwanger ist sie nie gewesen. Eine
Schwangerschaft hat sie sich eingebildet. (Die Grenzlinie zwischen
Fantasie und Wirklichkeit.) Nochmals geht es um den Begriff der
„einvernehmlichen Vergewaltigung“. Nach dem Tod des Opfers habe ihr
der harte Sex gefehlt. Sie wisse, hat Sandra dem Gutachter gesagt,
dass sie manchmal Geschichten erzähle. Er spricht von extremen
Persönlichkeitszügen. Das allerdings, so der Gutachter, sei „ein
Stil und keine Krankheit“. Es fällt das Wort von der „extremen
Variation des Menschseins“. Man fühlt sich wie im Bahnhof:
Boderlinezüge, massiv akzentuierte Persönlichkeitszüge. Sandra S.,
sagt der Gutachter, habe vieles erduldet, um nicht verlassen zu
werden. Wieder spricht er von der „extremen Variante des
Menschseins“. In Bezug auf die Tat: Kein Affekt, kein
Realitätsverlust, keine Bewusstseinsstörung. Keine Merkmale. Keine
Einschränkungen. Dass es ein „psychiatrisches Verständnis“ gibt,
spielt für das Gericht keine Rolle. Könnte eine Affekthandlung mit
depressiver Vortönung vorliegen? Nein. Es gibt Hinweise auf eine
Affektstörung, die aber ohne Einfluss auf die Steuerungsfähigkeit
bleiben. Die Angeklagte ist nicht psychisch krank. Sandra S. hätte –
sagt der Gutachter und meint das Tatgeschehen – andere Wege gehen
können. Es wird von „Literatur“ gesprochen, ohne dass Poesie gemeint
wäre. Die „einschlägige Literatur“ sieht die lange Tatanlaufzeit als
Gegenpol der Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit. Sandra S. –
massiv traumatisiert, schwerst persönlichkeitsauffällig. Trotzdem
war ihr zuzumuten, „andere Lösungswege zu finden“. Das Unzumutbare
ist also zuzumuten. Die Anwendung der Paragrafen 20 und 21 ist für
den Gutachter auszuschließen. Verständnis? Psychologisch ja,
juristisch nein.
Das Gericht beschließt eine kurze Pause. „Nur wie zwischen Spiel und
Verlängerung. Fünf Minuten vielleicht. Niemand muss in die Kabine.“
Längst glaubt niemand im Saal mehr solchen Beteuerungen. „Sowas wie
hier gibt es sonst nirgends in Deutschland“, sagt der Zeit-Kollege.
„Anderswo sagen sie fünf Minuten. Dann sind es fünf Minuten.“ Auch
diesmal werden aus den ursprünglich geplanten fünf Minuten 14 und
man fragt sich nach der Belastbarkeit solcher Aussagen.
Ausbilder
Es folgt: Der Rundgang durch eine dritte Täterseele. Mario A. ist
therapie-erfahren. Gibt es eine Übersetzung? Knäste sind
Ausbildungsbetriebe. Jeder Mitgefangene: Ein Ausbilder. Mario A.
ist, sagt der Gutachter, einer von denen, die ihre Schuld verteilen.
Er ist humorvoll, nett, charmant aber eben auch einer, der bei der
Frage nach der eigenen Schuld gern auf die anderen verweist. Vor der
Tat sei es ihm gut gegangen. Danach nicht. Erst nach Festnahme
und Geständnis taucht Erleichterung auf. Ein Tötungsdelikt passe
nicht zu ihm, sagt der Angeklagte dem Gutachter. Die Tat belaste ihn
massiv. Dem Gutachter hat Mario A. erzählt, die Tat sei auf dem Weg
zum Tatort intensiv besprochen worden. Es sei darum gegangen, „wer
was macht“. Er habe die Spritze mit der tödlichen Dosis auslaufen
lassen. Der Gutachter spricht im Zusammenhang mit Mario A. von
antisozialen Zügen und davon, dass A. ein „early starter“ sei –
einer, den es früh ins Kriminelle geweht hat. Der zweite
Seelenrundflug ist genau so strukturiert wie schon beim ersten
Gutachten. Es wird inventarisiert, analysiert. Der Angeklagte hat
Drogenerfahrung. Gegenüber dem Gutachter hat er erkennen lassen,
dass eine „Maßregel“ für ihn nicht infrage kommt. „Das würde der
torpedieren“, sagt der Gutachter, der auch sagt, Mario A. sei ein
Mensch, der Hilfe brauche. Uneingeschränkt ja.
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
Strafgesetzbuch § 64: Hat eine Person den Hang,
alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß
zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat,
die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang
zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil
ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist,
so soll das Gericht die Unterbringung in einer
Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie
infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen
wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete
Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer
Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor
dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung
erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang
zurückgehen.
Später hält einen Moment lang die wirkliche Literatur ihren Einzug
in den langsam in der Novemberabenddämmerung verschwindenden
Gerichtssaal. Gutachter und Verteidigung sprechen von einer
„geschundenen Kreatur“. Sie lehnen sich an Büchners Wozzeck an.
Sandra, Sven und Mario werden – darf man vermuten – Wozzeck nicht
kennen. Gutachter und Verteidiger schon. Beide meinen sie Mario A. –
aber letztlich sind auch Sven G. und Sandra S. geschundene
Kreaturen.
Wozzeck
Aus dem Libretto von Georg Büchner:
Wozzeck, Er sieht immer so verhetzt aus. Ein guter Mensch tut das
nicht. Ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat, tut alles
langsam.
Soll man sich auf die Suche nach einem Gewissen machen? Wozzeck –
ein Dramenfragment von Büchner. Was sich hier abspielt, ist kein
Fragment. Das Drama ist umfassend.
Wozzeck: Sehn Sie, Herr Doktor, haben Sie schon was von der
doppelten Natur gesehn? Wenn die Sonn in Mattag [sic!] steht und es
ist, als ging’ die Welt in Feuer auf, hat schon eine fürchterliche
Stimme zu mir geredt!
Der Doktor im Gerichtssaal kommt nach 70 Minuten zu einem Schluss,
der dem des vorigen Gutachtens zumindest im Etgebnis ähnelt. Keine
Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Kein
Hinweis auf eine Psychose. Jetzt – nach sieben Verhandlungstagen –
ist das Ende der Beweisaufnahme erreicht. Keine neuen Anträge. Die
Positionierung der Parteien ist am Ende. Es wird Zeit, die Plädoyers
zu hören. Freitag der 13. war kein Unheilstag. Das Ende scheint
jetzt in Sicht. Vielleicht wird am 23. November ein Urteil fallen.
Längst werden die Worte schwer. Es gibt nichts mehr zu beschreiben.
Irgendwie hat man den Eindruck, dass längst alles gesagt wurde. Alle
Prozessbeteiligten haben sich in Stellung gebracht – die
Verteidigerteams haben sich positioniert. Eine Angeklagte, die nur
ein Gespräch wollte mit einem, der sie jahrelang vergewaltigte. Ein
geständiger Angeklagter, der zugab, die ersten Schläge geführt zu
haben. Ein zweiter Angeklagter, der einmal zuschlug und nicht weiß,
wen oder was er traf.
8. Tag
Neue Stühle im Gerichtssaal. Jetzt sitzt es sich leiser. Kein
geräuschintensives Korbgeflecht, das die kleinste Bewegung mit
Lärmentwicklung quittiert. Immerhin. Der 8. Verhandlungstag beginnt
nervtötend. Man fühlt sich an Bahnhofsdurchsagen erinnert: Der D-Zug
von X nach Y, planmäßige Ankunft, wird voraussichtlich...
Planmäßiger Verhandlungsbeginn: 13.30 Uhr. Schon am 7. Tag war der
Beginn des 8. Tages um 30 Minuten nach hinten gerückt worden. Die
Kammer betritt den Saal um 13.38 Uhr. Vorsitzender: „Können wir die
Beweisaufnahme dann jetzt abschließen?“ Man hatte mit einem Tag der
Plädoyers gerechnet. Jetzt meldet sich der Verteidiger von Sandra S.
mit zwei Anträgen zu Wort. Es geht um ein Blutspurengutachten zum
Beweis der Tatsache, dass mehr als fünf Schläge das Opfer trafen.
Ziel des zweiten Antrags: Nochmals soll der Mageninhalt des Opfers
untersucht werden. Es geht um die Feststellung, dass sich im Magen
von Mark M. weder Heroin noch sedierende Medikamente befanden. Der
Staatsanwalt meldet sich zu Wort. Die in den Beweisanträgen
festzustellenden Tatsachen seien, sagt er, nicht von Bedeutung.
Um 13.45 – die Verhandlung hat bisher sieben Minuten gedauert, zieht
sich das Gericht zur Beratung zurück. „Halten Sie sich für 14.15
bereit“, sagt der Vorsitzende und fügt hinzu: „Erwarten sie aber
nicht, dass wir dann hier sitzen.“ Um 15.15 verlässt einer der
Anwälte von Sven G. den Gerichtssaal. Er hat anderswo zu tun. Um
15.31 kehrt die Kammer in den Saal zurück. Beide Anträge werden
abgelehnt. Um 15.37 zieht sich die Kammer, nachdem die Verteidigung
von Mario A. einen weiteren Beweisantrag bezüglich des
Baseballschlägers eingereicht hat, zur Beratung zurück und kehrt um
16.41 zurück. Der Beweisantrag wird abgelehnt.
Plädoyer
Wer ist schon das Volk? Richter? Schöffe? Verteidiger? Der
Staatsanwalt? Das Publikum? Wenn vor Gericht im Namen des Volkes
geurteilt wird, wünscht man sich, dass, was verhandelt und endlich
beschieden wird, auch vom Volk unterschrieben werden kann. Aber von
welchem Volk? Es gibt ein Volk der Täter und eines der Opfer. Es
gibt ein Volk der Unschuld und eines ... Nein – es geht so nicht.
Der Wunsch: Das Volk soll nicht rachsüchtig sein, nicht vorschnell
in seinem Urteil. Alles soll ein Gewicht bekommen. Das Für. Das
Wider. Wenn nach Abschluss der Beweisaufnahme die Staatsanwaltschaft
plädiert, tritt das Volk gegen das Volk an. Man wünscht sich einen
Ankläger, der nach bestem Wissen und Gewissen eine Tat begutachtet
und argumentiert, was zu argumentieren ist. Man wünscht sich einen,
der das Volk auf beiden Seiten vertritt. Keinen Racheengel. Keine
Diva der Gerechtigkeit. Man wünscht sich einen, zu dem man ginge,
weil man auf etwas hofft, das vielleicht Fairness genannt werden
kann. Ausgewogenheit. Vielleicht ist Hendrik Timmer ein solcher
Ankläger. Am 8. Verhandlungstag – die Beweisaufnahme ist beendet –
steht einer auf und plädiert 60 Minuten, von denen keine zu viel und
keine zu wenig ist. Da macht sich einer nicht nur auf den Weg zur
Schuld. Er ist auch unterwegs zum Zweifel. Der Zweifel ist vor
Gericht ein heiliges Gut. Letzte Rettung vor der Willkür des
Rechthabenwollens. Der Zweifel beschützt den Angeklagten. Der
Zweifel markiert das Terrain der Verantwortlichkeit, die mancherorts
Gewissen genannt wird, wobei es nicht auf das Wort ankommt – nicht
auf die Verpackung. Was die einen Gewissen nennen, ist den anderen
die Moral. Der Inhalt zählt. Einer wie Timmer hinterlässt den
Eindruck des integren Anklägers. Er ist einer, der mit der
Taschenlampe in der Hand unter den Tisch des Anscheins leuchtet und
sich auf die Suche nach dem Aber macht. Es gibt das Aber beider
Seiten. Der das Volk vertritt – beide Seiten des Volkes – muss jedes
Aber finden und dann – so unbefangen wie möglich – die Waagschalen
der Justizia befüllen. Wo ihr die Augen verbunden sind, braucht es
einen sehenden Ankläger.
Timmers Reise in die Tat enthält, denkt man, jedes mögliche Aber. Er
stellt fest, was als bewiesen gelten kann und was nicht. Er macht
Zweifel geltend. Die Konstellation des Falles lässt verschiedenste
Kombinationen zu. Timmer, daran bleibt kein Zweifel, hält die
Erzählungen von Sandra S. bezüglich der jahrelangen Vergewaltigungen
für „wahrheitswidrig“. Timmer denkt Variationen des Geschehens
durch. Jeder der drei Angeklagten kann Zweifel geltend machen.
Zugunsten von Mario A., sagt Timmer, muss davon ausgegangen werden,
dass er nur einen Schlag ausgeführt hat und dieser Schlag nicht das
Opfer, sondern den Boden traf. Zugunsten von Sven G. muss angenommen
werden, dass nicht sein Schlag der todbringende war. Nein – es
bleibt offen, ob Sandra S. ein Essen für das Opfer zubereitete –
eines, das wohlmöglich Heroin oder ein Schlafmittel enthielt. Es
gibt, sagt Timmer, keine eindeutige Beschreibung des Tatgeschehens.
Vielleicht führte Sven G. den totbringenden Schlag, vielleicht war
es Mario A., vielleicht trat Sandra S. auf das Opfer ein. Mindestens
eine dieser Möglichkeiten muss angenommen werden. Ist da einer auf
dem Pfad der Gnade unterwegs? Nein. Auf dem Weg des Zweifels begibt
sich einer ins Zentrum der Schuld. Sandra S. hat, sagt Timmer, nicht
nur zwei Menschen zum Instrument eines Mordplans – ihres Mordplans –
gemacht. Sie hat nach der ersten Tat einen weiteren Mord nicht nur
geplant sondern in Auftrag gegeben. Es geht um das
„Selbstleseverfahren“. Man erfährt von Whatsapp-Nachrichten, nach
denen erwiesen zu sein scheint, dass Sandra S. auch ‘den Polen’
ermorden lassen wollte. Per Whatsapp wurde ein Preis diskutiert.
Nach Auftragserteilung schreibt Sandra S. an den Vermittler: „Das
wird ja lustig.“
Es geht um die von Sandra S. erwähnte Eskalation des Tatgeschehens.
Ja – von einer Eskalation kann ausgegangen werden, sagt Timmer. Im
Zentrum des Plans hat anfangs nicht die Tötung mit einem
Baseballschläger gestanden. Ursprünglich ging es um den „Goldenen
Schuss“. Timmer seziert die Aussage der Zeugin B. – einer Freundin
von Sandra S.. Die beiden sprachen immer wieder über Sandras
Beziehung zum späteren Opfer. Dabei sei nie die Rede von
Vergewaltigung gewesen. B. sitzt im Zuschauerraum und leidet
darunter, dass sie zum Bestandteil einer Argumentation wird, die auf
ein Lebenslänglich hinausläuft.
Timmer hält es für erwiesen, dass Sandra S. nie ein Gespräch mit dem
Opfer wollte. Sie wollte die Beseitigung von Mark M.. Sie habe Mark
loswerden wollen. Die Zubereitung eines vergifteten Essens sei der
Angeklagten nicht nachzuweisen. Auch die Tritte, von denen sie
selbst im Chat gesprochen habe, müsse man nicht als wirklich
geschehen annehmen. Sie hätten auch Prahlerei sein können. Man
erinnert sich an den Gutachter, der über die Grenzlinienverwehung
bezüglich Fantasie und Wirklichkeit gesprochen hatte. Es wiederholen
sich Für und Wider. Zugunsten von Sandra S.: Tritte auf das Opfer
sind nicht nachzuweisen. Die Schläge auf das Opfer kamen nicht von
ihr. Sie wurden von den Mittätern geführt. Zugunsten von Sven G.:
Die Schläge kamen von Mario A. – dazu die möglichen Tritte von
Sandra S.. Zugunsten von Mario A.: Er muss angenommen werden, dass
er das Opfer nicht traf. Wahrscheinlich zerbrach der Schläger auf
dem Boden und nicht am Kopf des Opfers. Für Timmer steht fest: Es
ist zu keinem Zeitpunkt um ein Gespräch gegangen. Noch einmal
überfliegt der Staatsanwalt das Nachtatverhalten der Angeklagten.
Sie hat einen Mordauftrag erteilt.
Dann die Landung. Der Landeplatz kann nicht Totschlag heißen. Es
geht um Mord. Totschlag und Mord unterscheiden sich unter anderem
dadurch, dass beim Mord die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers
ausgenutzt wird. Mark M. war arglos. Er konnte nicht mit einem
Angriff rechnen. Die Tat: Heimtückisch. Das Ergebnis: Totschlag
kommt nicht in Betracht. Dann geht es um die Mittäterschaft, es geht
um etwas, das Tatherrschaft genannt wird. Längst geht es um
Feinheiten der Rechtsprechung, die nur noch von Profis wirklich
verstanden werden, Es geht darum, ob im Fall Mario A. „nur Beihilfe“
zum Tragen kommt. Ja, Mario A. hat dem Opfer die Spritze nicht
verabreicht. Er hat vielleicht nur einmal zugeschlagen und dabei
möglicherweise nur den Boden getroffen, aber (Timmers Aber kommt
fettgedruckt daher) „aber er hat zugeschlagen“. Immer wieder wird
jetzt der Bundesgerichtshof zitiert. Es gibt ähnlich gelagerte
Fälle. Eine Zahl wird genannt. Ein Wort dazu. Paragraf 24,
Strafgesetzbuch. Dazu das Wort „Rücktritt“.
(1) Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig die
weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung
verhindert. Wird die Tat ohne Zutun des Zurücktretenden nicht
vollendet, so wird er straflos, wenn er sich freiwillig und
ernsthaft bemüht, die Vollendung zu verhindern.
(2) Sind an der Tat mehrere beteiligt, so wird wegen
Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die Vollendung
verhindert. Jedoch genügt zu seiner Straflosigkeit sein
freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, die Vollendung der Tat zu
verhindern, wenn sie ohne sein Zutun nicht vollendet oder
unabhängig von seinem früheren Tatbeitrag begangen wird.
Timmer sieht die Voraussetzungen nicht erfüllt. Als es um
die Strafzumessung geht, beantragt er auch für Mario A. eine
lebenslängliche Freiheitsstrafe. Bei einer lebenslänglichen
Freiheitsstrafe, erklärt Timmer dann, kann frühestens nach 15
Jahren geprüft werden, ob der Rest der Strafe zur Bewährung
ausgesetzt werden kann. Wird die besondere Schwere der Schuld
festgestellt, ist auch das nicht möglich.
§ 57a
Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe
(1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer
lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn 1. fünfzehn
Jahre der Strafe verbüßt sind, 2. nicht die besondere Schwere
der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet
und 3. die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3
vorliegen. § 57 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 6 gilt entsprechend. (2)
Als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 1 gilt
jede Freiheitsentziehung, die der Verurteilte aus Anlaß der Tat
erlitten hat. (3) Die Dauer der Bewährungszeit beträgt fünf
Jahre. § 56a Abs. 2 Satz 1 und die §§ 56b bis 56g, 57 Abs. 3
Satz 2 und Abs. 5 Satz 2 gelten entsprechend.
(4) Das Gericht kann Fristen von höchstens zwei Jahren
festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag des Verurteilten, den
Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist.
Timmer sieht bei Sandra S. die besondere Schwere der Schuld
als gegeben. Sie hat ihre Mittäter mittels wahrweitswidrigen
Erzählungen (die Vergewaltigungen) manipuliert und
instrumentalisiert und sie hat einen zweiten Mordauftrag erteilt.
Sie hat das Herrschaftswissen genutzt – gemeint sind die
Vergewaltigungserzählungen. Vielleicht also müsste von
Herrschaftsfantasien gesprochen werdem.
Für Sven G. beantragt Timmer eine lebenslängliche Freiheitsstrafe
und anschließende Sicherungsverwahrung. Für die Sicherungsverwahrung
im Sinne des Paragrafen 66 müssen vier Voraussetzungen erfüllt sein.
Sven G., so Timmer, sei zu gefährlich für die Gesellschaft. Das Wort
vom „Wegsperren für immer“ findet Gebrauch und ist die einzige
Eintrübung in einem Plädoyer, das von den Verteidigern anders
gesehen werden kann. Was Timmer argumentiert, hat Hand und Fuß – ist
nachvollziehbar und wirkt an keiner Stelle gewollt oder
herbeigebogen. Eine Tat hat viele Aspekte und Vieles hängt vom
Standpunkt des Betrachters ab. Einem wie Timmer kann man glauben,
dass er sich an allen Perspektiven abgearbeitet hat.
Am Ende des 8. Tages ist den Angeklagten anzumerken, dass sie auf
dem Weg zum Urteil erstmals wirkliche Tragweiten verspüren. Nach
sieben Tagen, in deren Verlauf Hoheitsgebiete abgesteckt wurden,
wird die Trostlosigkeit greifbar.
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die
Sicherungsverwahrung an, wenn 1. jemand zu Freiheitsstrafe von
mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat
verurteilt wird, die a) sich gegen das Leben, die körperliche
Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle
Selbstbestimmung richtet, b) unter den Ersten, Siebenten,
Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen
Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das
Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit
Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder c)
den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht
auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b
genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a,
soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der
in den Buchstaben a oder b genannten Art ist, 2. der Täter wegen
Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen
Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe
von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, 3. der wegen
einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit
von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im
Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und
Sicherung befunden hat und 4. die Gesamtwürdigung des Täters und
seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen
Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer
seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt
der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist. Für die
Einordnung als Straftat im Sinne von Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b
gilt § 12 Absatz 3 entsprechend, für die Beendigung der in Satz
1 Nummer 1 Buchstabe c genannten Führungsaufsicht § 68b Absatz 1
Satz 4.
(2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1
Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils
Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird
er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von
mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der
in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der
Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung
oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3)
anordnen.
(3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz
1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens
oder wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 174c, 176, 179
Abs. 1 bis 4, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen
einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch
begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu
Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann
das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen,
wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die
er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu
Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist
und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten
Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in
Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils
Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird
er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von
mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den
in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben
der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere
Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2
und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.
(4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine
Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist
Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf
Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im
Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt
außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als
fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist
wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf
behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine
Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses
Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses
Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem
Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den
Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art
wäre.
Das Ende des 8. Tages macht zum ersten Mal die
Aussichtslosigkeit für die Angeklagten deutlich. Natürlich spricht
der Staatsanwalt nicht das Urteil – er gibt eine
Handlungsempfehlung, ausgerichtet am Raster der Justiz. Er gibt eine
erste Richtung vor. Würde das Gericht ihm folgen, hieße das: Im Fall
Mario A. würde sich frühestens im Jahr 2031 die Frage nach einem
vorzeitigen Ende stellen. Bei Sandra S. zehn Jahre später und bei
Sven G. nie. Man kann solche Zeiträume erst erfassen, wenn man sie
konkret denkt. Ein Kind, heute geboren, wäre, wenn es für Sandra um
eine Entlassung aus der Haft geht, 25 Jahre alt – hätte einen Beruf
oder studiert ... könnte selbst Kinder haben. 25 Jahre: Eine Zahl.
Schnell ausgesprochen. Für die Angeklagten eine Weiche ins Nichts.
Niemand wird dem Staatsanwalt vorwerfen können, er habe es sich
leicht gemacht. Wenn Sandra S. das Gefängnis verlässt, wird er
längst Pensionär sein. Man merkt den Angeklagten an, dass die
Perspektive eines Lebens hinter Gittern stückweise bei ihnen
eintrifft – die Seele erreicht. Einschnürt. Man spürt nicht nur ihr
aufdämmerndes Entsetzen – man spürt auch die eigene Sprachlosigkeit.
Was Sven G. erwartet, ist eine freud- und trostlose Unendlichkeit
ohne die Hoffnung auf ein Freikommen.
Am Anfang des Prozesses stand eine Erwartung. Es muss ein
Lebenslänglich werden, hatte man gedacht und auf das Eintreffen des
Erwarteten gehofft. Jetzt sitzt man – taub geworden von aller
Hoffnungslosigkeit – da und fragt sich, wie ein Staat, wie das Volk
auf eine solche Tat reagieren muss. Welche Antworten gibt es? Ist
das Wegsperren bis zum Ende die Antwort, die das Volk geben möchte?
Das hängt sicherlich vom Standpunkt ab. „Womit bekämpft man eine
Idee“, heißt es in einer Schlüsselszene aus dem Kino-Klassiker „Ben
Hur“. Die Antwort ist so überraschend wie simpel: „Mit einer anderen
Idee.“ Mit welcher Idee kann das Volk eine Tat beantworten, deren
Gnadenlosigkeit erschauern lässt? Kannmuss man die Gnadenlosigkeit
der Täter mit Hoffnungslosigkeit beantworten?
Architekturen III
Es ist noch weit bis zum Urteil. Die Verteidiger werden sprechen und
eine andere Sicht auf die Dinge freilegen, bevor als vorerst letzte
Instanz die Kammer ein Urteil, ihr Urteil fällen wird. Ein Prozess
ist gefüllt mit der Suche nach Handlungsanweisungen. Gutachter
können Handlungsanweisungen geben, indem sie ihr Wissen zur
Verfügung stellen.Gerichtsmedizin: Wie kam jemand zu Tode? Lassen
sich die Ursachen in einer Reihenfolge anordnen?
Psychologisches Gutachten: Der Seelenrundgang mit Klärung der Frage,
ob ein Täter einsichts- und steuerungsfähig war. Schließlich:
Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Die einen auf der Suche nach
dem Bösen, die anderen auf der Suche nach dem Guten. Natürlich ist
nichts so schwarz oder weiß. Natürlich ist, anders als in Amerika,
ein deutscher Staatsanwalt verpflichtet, auch nach Entlastung zu
suchen. Am Ende gilt es, eine Tat zu werten, einzuordnen, zu
bestrafen oder doch wenigstens einen Strafrahmen zu nutzen.
Lebenslänglich für Mario A.. Der Mann, der die Spritze mit dem
goldenen Schuss nicht setzte – sie nicht setzen konnte und wollte.
Der Mann, der einmal zuschlug und vielleicht den Boden traf. Ist
einer, der so handelt, von der Tat zurückgetreten? Nein, sagt der
Staatsanwalt. Die Verteidigung wird, muss es anders sehen. Sandra
S.: Lebenslänglich mit Feststellung der besonderen Schwere der
Schuld. Sie war der Kopf dieser Tat – hat Menschen zu Instrumenten
gemacht. Vergewaltigung ja oder nein? Spielt das eine Rolle? Gab es
keine Vergewaltigung, rücken Anstiftung und Tat in ein noch fahleres
Licht. Gab es Vergewaltigungen, rechtfertigt auch das keine Tat,
aber es macht sie – man erinnert sich an das psychologische
Gutachten – greifbarer. Am Ende landet man bei Sven G..
Lebenslänglich? Ja. Es gibt eine Tat. Da ist die Strafe. Ein Mord
lässt wenig Spielraum. („Wie bekämpft man eine Idee?“ „Mit einer
anderen Idee.“) Sven G., wird, sollte das Gericht der Einschätzung
des Staatsanwaltes folgen, das Gefängnis nie wieder verlassen.
Der Blick zurück – er hat immer wieder stattgefunden – ist der Blick
in eine grausigunmenschliche Tat. Es ist der Blick auf und in ein
Geschehen, das nirgendwo Gnade zeigt. Keinen Lichtblick offenbart.
Keine Hoffnung übrig lässt. Trotzdem stellt sich die Frage nach der
Antwort, die das Gesetz einem wie Sven G. zu geben in der Lage ist.
Ein Staat, der ein Lebenslänglich fordert und die anschließende
Sicherungsverwahrung verhängt, ist auch ein Staat, der einen
Menschen verloren und sich selbst geschlagen gibt. Der Staat ist das
Volk. Das Volk ist – siehe oben – nicht ein Volk. Das Volk im
Gerichtssaal beim Prozess der Staat gegen Sandra S., Mario A. und
Sven G. ist vertreten durch die Eltern des Opfers, die Angehörigen
der Täter und denen, die es in den Gerichtssaal geweht hat – sei es
aus Neugier, sei es, um über den Prozess zu berichten. Man darf von
den Eltern des Opfers keine Gnade erwarten. Und man muss die
Betroffenheit der Täter und ihrer Angehörigen und Freunde
relativieren. Was aber ist mit den anderen? Welches Urteil würden
sie unterschreiben? Denkt man an Sven. G., so ist das Urteil
letztlich das Anerkennen der eigenen Ohnmacht im Angesicht des
Unfassbaren. Der Staat soll und muss strafen. Am Ende aber stellt
sich die Frage, ab welchem Punkt der Staat einen seiner Bürger
verloren geben darf. Ist einer wie Sven G. ein Rettungsloser?
Während man so denkt, taucht auch der Gedanke auf, wie man dächte,
wenn das Opfer dieser brutalen Tat der eigene Sohn, die eigene
Tochter gewesen wäre. Weder die Eltern des Opfers noch die der Täter
sollten auf dem Richterstuhl sitzen. Am Ende des Prozesses wird es
um die Frage gehen, ob die Kammer einen Menschen ins Rettungslose
schickt – ihm jegliche Hoffnung nimmt. Ihn verloren gibt. Will man
die Gnadenlosigkeit der Tat mit der Perspektivlosigkeit der Strafe
beantworten?
Vorletzter Tag
... Gehirne suchen Geschichten. Zusammenhänge. Vier Bilder hängen
an der Wand. Eines fällt hinunter ...
Kadenzen
Wenn Prozesse Instrumentalkonzerte sind, dann sind die Plädoyers die
Kadenzen. Endlich konzentriert sich alles auf den Solisten. Sogar
der Dirigent lässt den Taktstock sinken. Der Solist fasst zusammen
und liefert sich selbst den Befähigungsnachweis. Motive ziehen
vorbei, Themen, Gedanken. Die Realität wird neu gesehen. Publikum
und Orchester staunen. Der Solist bedient sich aus der
Vorratszentrifuge. Was wie improvisiert klingt, ist vorgedacht,
nutzt Effekte, setzt auf Mitdenken. Der Solist wird zum
Nachschöpfer. Niemand darf jetzt unterbrechen, bis das Ensemble
wieder einsetzt und der Dirigent die Vorherrschaft zurückgewinnt.
... vier Bilder hängen an der Wand. Die Tür öffnet sich. Eines
fällt hinunter ...
Am vorletzten Tag haben die Verteidiger das Wort. Manche von ihnen
scheinen es nicht zu wissen, denn sie erscheinen zu spät. Irgendwann
hatte es geheißen: 13. 30 Uhr. Dann wurde auf 13 Uhr geändert. Nicht
alle scheinen es mitbekommen zu haben. Man mag nicht glauben, dass
es um drei Leben geht.
... das Huhn oder das Ei ...?
Es geht immer um Sichtweisen. Immer um Positionen. Um Deduktionen.
Um Ausschluss. Um Einschluss. Es ist an der Zeit, dem Staat zu
widersprechen. Ein Verteidiger, der nicht widerspricht, ist
vielleicht kein Verteidiger.
... vier Bilder hängen an der Wand. Ein Auto fährt vorbei. Eines
der Bilder fällt hinunter ...
Es ist ein Tag der Schmerzen für die Eltern des Opfers. Sie werden
hören, dass alles auch ganz anders gewesen sein könnte. Irgendwann
fällt das Wort vom Tyrannenmord. Ein Opfer muss nicht
notwendigerweise ein nur guter Mensch gewesen sein. Auch Täter sind
nicht zwingendnurschlecht.
Plädoyers offenbaren Sichtweisen – entlarven andere Sichtweisen.
Plädoyers sind Denkanstöße und können Drohungen sein. Bitten.
Appelle. Skizzen einer anders ausgeleuchteten Wirklichkeit. Wenn es
eine Tat und einen Täter gibt – dazu vielleicht nur einen
Verteidiger – kann über Wirklichkeit auf zwei Seiten nachgedacht
werden. Hier die Anklage – dort die Verteidigung. Diese Tat ist ein
Kaleidoskop. Diese Tat fordert die Gehirne. Das menschliche Gehirn
ist angetreten, Ursachen und Wirkungen zu verschränken. Ein Bild
fällt von der Wand. Vorher öffnete sich eine Tür. Die Geschichte:
Das Bild ist aufgrund der Erschütterung durch sich öffnenende Tür
von der Wand gefallen. Eine klare Sache. Vielleicht war es auch ein
Luftzug.
... vier Bilder hängen an der Wand. Die Tür öffnet sich. Eines
der Bilder fällt hinunter. Lag es an der Tür? Warum sind nicht
alle Bilder von den Haken gerutscht ...
... vier Bilder hängen an der Wand. Eines fällt hinunter. Die
Türe war geschlossen. Aber: Es fuhr ein Auto vorbei. Das Auto war
der Auslöser. Was, wenn nicht das Auto? Ein Bild fällt nicht
einfach von der Wand ...
... ein Bild fällt von der Wand. Kurz danach passiert vor dem
Fenster ein Unfall? Ein Zusammenhang? Nein. Ein Bild, das von der
Wand fällt, kann nicht einen Unfall auslösen ...
... vier Bilder hängen an der Wand. Eines fällt hinunter. Was
werden die Anwälte sagen? Nun – das könnte davon abhängen, wen sie
vertreten ...
Plädoyers sind der Versuch, Ursachen und Wirkungen anders zu
kombinieren – sie vielleicht auch zu entkoppeln. Sandra S.s Anwälte
machen den Anfang. Es ist 13.21 Uhr. Der Staatsanwalt hat die
Mandantin dämonisiert. Der Staatsanwalt hat nicht gesagt, warum er
die Argumente des Gutachters ausgeklammert hat. Der hat Sandra S.
geglaubt. Er hat ihr geglaubt, dass die Vergewaltigungen
stattgefunden haben. Er hat von der geschundenen Kreatur gesprochen.
Er hat von einer unterdurchschnittlich aggressiven Frau gesprochen,
die überdurchschnittlich sozial handelt und in einer depressiven
Grundstimmung lebt, deren spontane Aggressivität
unterdurchschnittlich ist – die in dauernder Angst vor dem
Verlassenwerden lebte. Der Gutachter hat von erhöhten
Borderlinewerten gesprochen, er hat das Wort persönlichkeitsprägend
benutzt. Er hat, das Gericht wird sich vielleicht erinnern, mehrmals
das Wort „leider“ benutzt. Die Angeklagte: Kein Dämon. Eine
Verliererin. Eine, die ihr Leben an die Wand gefahren hat. Das Opfer
war ihr ein „Objekt der Hilfbereitschaft“. Jahrelang hat sie seine
Übergriffe erduldet, ertragen, erlitten. Nur die Freundin von Mario
A. hat wirklich verstanden, welche Tragödie da gelebt wurde. Die
Angeklagte hat nichts gewollt als einen Denkzettel. Es gab keine
Tötungsabsicht. „Sie schwamm in einer Gefühlssuppe.“ Das
Kanzlerinnenvokabel wird in Tatnähe postiert: Alternativlos. Ging es
um eine gerechtfertigte Notstandslage? Das Plädoyer des Staatsanwalt
hat, sagt Sandra S.s erster Verteidiger, einen schalen Geschmack
hinterlassen. Es kann nicht um die besondere Schwere der Schuld
gehen. Kein Mord. Also: Eine „zeitige Freiheitsstrafe“ unter zehn
Jahren – ins Ermessen des Gerichts gestellt.
14.32 Uhr: Sandra S.s zweiter Verteidiger. Er hat eine andere
Erwartung an das Plädoyer des Staatsanwaltes gehabt. Der hat mit
einem Federstrich alle Verteidigungsversuche niedergebügelt. Man
sucht den Ton zu einem solchen Gedanken und könnte an ein
aggressives Termolo denken, aber der Verteidiger ist ruhig. Er setzt
nicht auf Effekt. Er arbeitet an einer anderen Perspektive.
... vier Bilder hängen an der Wand. Das Huhn – das Ei. Was war
zuerst. Man müsste diese Frage vor einem Gericht klären ...
Dem Verteidiger fehlt es an Gründen dafür, dass der Staatsanwalt
eben die Sicht der Dinge präsentiert hat, die er präsentiert hat.
„Warum gehen wir eigentlich immer davon aus, dass es einen Tatplan
gegeben hat?“ [Tatpläne verknüpfen Ursachen mit Wirkungen. Sie
beschleunigen den Weg in eine Beurteilung.] Das sagt der Verteidiger
nicht. Er sagt, dass es aus seiner Sicht keinen Tötungsvorsatz
gegeben hat. „Können wir einfach sagen: Das ist nicht wahr?“ Der
Verteidiger hat „Kontrollfragen“ an den Staatsanwalt: Wieso die Tat
zu eben jenem Zeitpunkt, an dem sie geschah? War das ein Plan? Wenn
man vom Ergebnis argumentiert, sagt der Verteidiger, dann hat der
Staatsanwalt schlüssig operiert. „Warum denken wir immer an einen
konkreten Plan?“ Der Verteidiger sieht „eine Sache, die aus dem
Ruder gelaufen ist“. Gab es überhaupt einen Tötunsvorsatz? Nein. Es
ging um einen Denkzettel. Auch der Verteidiger arbeitet mit
Denkzetteln: Er legt Karteikarten ab – sie enthalten die Eckdaten
seiner Argumentation. Er ist – wie der Gutachter – fest davon
überzeugt, dass die Übergriffe des späteren Opfers auf seine
Mandantin stattgefunden haben. Zwischendurch wird das Dilemma dreier
Angeklagter deutlich. Das Heil des einen liegt im Untergang der
anderen. Angriff ist eine Spielart der Verteidigung. „Die beiden
Herren“, sagt Sandra S.s Verteidiger und meint natürlich Sven G. und
Mario A. – „die beiden Herren wollten, dass auch meine Mandantin
hängt“. Dass seine Mandantin, nachdem sie „die beiden Herren“ nach
der Tat nachhause brachte, auf das Opfer eingetreten haben könnte:
„Unsinn.“. Natürlich: Durch ihre unsägliche Prahlerei hat sie sich
selbst schweren Schaden zugefügt. Die Tritte: „Unsäglicher Unsinn!“
Eine Frau wollte sich wichtig machen. Ja – diese Nachrichten lassen
sich nicht aus der Welt diskutieren. Aber sie stammen von einer
Frau, von der auch der Gutachter sagte, dass sie Schwierigkeit bei
der Abgrenzung von Fantasie und Wirklichkeit hat. Es gibt zu viele
Ungereimtheiten. Ein Tötungsvorsatz lässt sich nicht mit Sicherheit
nachweisen. Die zweite Kadenz endet mit einem Antrag auf eine
„zeitige Freiheitsstrafe wegen Körperverletzung mit Todesfolge“. Der
Verteidiger hat beeindruckend plädiert – hat dem Staatsanwalt
vorgeworfen, er habe nach einem Ergebnis argumentiert. Es hängt
immer vom Standpunkt ab. Sandra S. Verteidiger hat nicht davon
gesprochen, dass es Whatsapp-Nachrichten mit einem Tötungsauftrag
gab. Dass das Tottreten Wichtigmacherei war, hat auch der
Staatsanwalt zugunsten der Angeklagten angenommen. Aber wenn eine
zwei Killer engagiert, wird es am Ende schwierig, „ätschibätschi“ zu
sagen. Natürlich: Dass eine einen Tötungsauftrag erteilt, kann nicht
rückwirkend in die hier zu verhandelnde Tat eingedeutet werden. Eine
Tat, die Vieles ungeklärt lässt, erzeugt viele Fragen.
... vier Bilder hängen an der Wand. Die Tür öffnet sich. Eines
fällt hinunter ...
Um 14.03 übernehmen die Verteidiger von Mario A. das Spielfeld.
Jetzt geht es um andere Ziele. Es geht ans Eingemachte der Justiz.
Um Feinheiten. Fachvokablen beherrschen die Auslegung des
Geschehenen. Zurechnung, Rechtsfolge. Zahlen werden genannt.
Natürlich gehören die Zahlen zur Paragrafen. Der Paragraf 213 des
Strafgesetzbuches befasst sich mit Totschlag in einem minder
schweren Fall.
Minder schwerer Fall des Totschlags
War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem
Angehörigen zugefügte Mißhandlung oder schwere Beleidigung von dem
getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur
Tat hingerissen worden oder liegt sonst ein minder schwerer Fall
vor, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn
Jahren.
Es geht auch um die „Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung von
schweren Straftaten“. Die Zahl lautet jetzt: 46. Dazu ein Buchstabe:
b.
§ 46b Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren
Straftaten
(1) Wenn der Täter einer Straftat, die mit einer im
Mindestmaß erhöhten Freiheitsstrafe oder mit lebenslanger
Freiheitsstrafe bedroht ist,
1. durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich
dazu beigetragen hat, dass eine Tat nach § 100a Abs. 2 der
Strafprozessordnung, die mit seiner Tat im Zusammenhang steht,
aufgedeckt werden konnte, oder
2. freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle
offenbart, dass eine Tat nach § 100a Abs. 2 der
Strafprozessordnung, die mit seiner Tat im Zusammenhang steht
und von deren Planung er weiß, noch verhindert werden kann, kann
das Gericht die Strafe nach § 49 Abs. 1 mildern, wobei an die
Stelle ausschließlich angedrohter lebenslanger Freiheitsstrafe
eine Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren tritt. Für die
Einordnung als Straftat, die mit einer im Mindestmaß erhöhten
Freiheitsstrafe bedroht ist, werden nur Schärfungen für
besonders schwere Fälle und keine Milderungen berücksichtigt.
War der Täter an der Tat beteiligt, muss sich sein Beitrag zur
Aufklärung nach Satz 1 Nr. 1 über den eigenen Tatbeitrag hinaus
erstrecken. Anstelle einer Milderung kann das Gericht von Strafe
absehen, wenn die Straftat ausschließlich mit zeitiger
Freiheitsstrafe bedroht ist und der Täter keine Freiheitsstrafe
von mehr als drei Jahren verwirkt hat.
(2) Bei der Entscheidung nach Absatz 1 hat das Gericht
insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und den Umfang der offenbarten Tatsachen und
deren Bedeutung für die Aufklärung oder Verhinderung der Tat,
den Zeitpunkt der Offenbarung, das Ausmaß der Unterstützung der
Strafverfolgungsbehörden durch den Täter und die Schwere der
Tat, auf die sich seine Angaben beziehen, sowie
2. das Verhältnis der in Nummer 1 genannten Umstände zur
Schwere der Straftat und Schuld des Täters.
(3) Eine Milderung sowie das Absehen von Strafe nach Absatz
1 sind ausgeschlossen, wenn der Täter sein Wissen erst
offenbart, nachdem die Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 207 der
Strafprozessordnung) gegen ihn beschlossen worden ist.
Es geht um um eine anzuordnende Maßragel nach dem Paragraf
64 des Strafgesetzbuches. Es geht um etwas, das die Verteidigung
Zurechnungszusammenhang nennt. Es geht um ähnliche gelagerte
Fälle. Der Holffällerfall wird genannt. Der Bratpfannenfall. Da
sitzt man und fühlt sich irgendwie zurückgelassen. Noch eine
Zahl: 49.
§ 49
Besondere gesetzliche Milderungsgründe
(1) Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift
vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung
folgendes:
1. An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt
Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.
2. Bei zeitiger Freiheitsstrafe darf höchstens auf drei
Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. Bei
Geldstrafe gilt dasselbe für die Höchstzahl der Tagessätze.
3. Das erhöhte Mindestmaß einer Freiheitsstrafe ermäßigt
sich im Falle eines Mindestmaßes von zehn oder fünf Jahren auf
zwei Jahre, im Falle eines Mindestmaßes von drei oder zwei
Jahren auf sechs Monate, im Falle eines Mindestmaßes von einem
Jahr auf drei Monate, im übrigen auf das gesetzliche Mindestmaß.
(2) Darf das Gericht nach einem Gesetz, das auf diese
Vorschrift verweist, die Strafe nach seinem Ermessen mildern, so
kann es bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe
herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe
erkennen.
Wieder geht es um eine „zeitige“ Strafe. Die Zurechnungsfrage ist
eine Wertungsfrage. Der Verteidiger beschreibt einen „bußfertigen
Mandanten“. Die Vokabeln: Tyrannentötung. Das Opfer: Ein Tyrann aus
subjektiver Sicht.
[Wikipedia: Als Haustyrannenmord wird die Tötung eines
misshandelnden Ehegatten, insbesondere nach einem Streit,
bezeichnet. Dabei handelt es sich meist um eine Tötungsform, die
nach deutschem Recht den Tatbestand des Mordes erfüllt; in der
Regel werden Situationen ausgenutzt, in denen der körperlich
überlegene Ehegatte arg- und wehrlos ist (Heimtückemord).
Nach deutschem Recht ist die Tat selbst bei jahrelangen
Misshandlungen nicht durch Notwehr im Sinne des § 32
Strafgesetzbuch (StGB) gerechtfertigt. Es mangelt an der
Gegenwärtigkeit eines Angriffs. Auch scheitert nach herrschender
Meinung ein rechtfertigender Notstand nach § 34 StGB daran, dass
das Rechtsgut Leben einer Abwägung nicht zugänglich ist. Eine
Entschuldigung nach § 35 StGB wird häufig mit der Begründung
versagt, dass die Tat im Sinne dieser Vorschrift anders
abwendbar war, beispielsweise durch die Inanspruchnahme
staatlicher Hilfe.[1]
Problematisch ist in Haustyrannenfällen die Vereinbarkeit
der an sich obligatorischen lebenslangen Freiheitsstrafe nach §
211 I StGB mit dem Schuldgrundsatz.[2] Daher versucht die
Rechtsprechung, auf der Ebene der Strafzumessung eine
angemessene, den oft jahrelang vorausgehenden Misshandlungen
gerecht werdende mildere Strafe gemäß § 49 I Nr. 1 StGB
auszusprechen.[1] Juristen nennen dies die Rechtsfolgenlösung.
[Wikipedia: Der Ausdruck Rechtsfolgenlösung bezeichnet eine
vom Bundesgerichtshof entwickelte ungeschriebene
Strafzumessungsvorschrift zum Mord. An Stelle lebenslanger
Freiheitsstrafe tritt ein gemilderter Strafrahmen ein, wenn die
Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe trotz der Schwere des
tatbestandsmäßigen Unrechts unverhältnismäßig wäre, weil
außergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Ausmaß der
Täterschuld erheblich mildern z. B. tiefes Mitleid, „gerechter
Zorn“, schwere Provokation.]
... vier Bilder hängen an der Wand. Eines fällt hinunter. Was,
wenn einer der Nagel wäre, an dem das Bild hing? ...
Paragraf 46. Es geht um „Grundsätze des Strafzumessung.
(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung
der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige
Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu
berücksichtigen.
(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die
für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen
namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des
Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder
sonstige menschenverachtende, die Gesinnung, die aus der Tat
spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der
Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten
Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein
Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden
wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich
mit dem Verletzten zu erreichen.
(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen
Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.
Immer wieder appelliert der Verteidiger an das Gericht. Der Mandant
„verdient Milderung“. Es muss Maßregel nachgedacht werden.
Auf der Heimfahrt vom Gericht: Im Radio ein Essay über den Krieg.
Der Mann einer am 13. November in Paris getöteten Frau. Die
Frau ging ins Konzert. Der Mann blieb mit dem 17 Monate alten Sohn
zuhause. Er sagt: „Am Freitagabend hat ihr einem außergewönhlichen
Menschen das Leben genommen.Die Liebe meines Lebens. Die Mutter
meines Sohnes.Aber meinen Hass bekommt ihr nicht.Ich werde euch
nicht das Geschenk machen, euch zu hassen.
Wie bekämpft man eine Idee? Mit einer anderen Idee.
Der Verteidiger bittet um eine „zeitige Freiheitsstrafe im Ermessen
des Gerichts“. Er bittet um die Verhängung der Maßregel. Länst fragt
man sich, welcher Geschichte man folgen möchte. Kann. Muss. Will.
14.25. Mario A.s zweiter Verteidiger ergreift das Wort. Es ist längs
mühsam geworden, den hochspezialisierten Gedanken der Spezialisten
zu folgen. Es ist vom „nachträglichen Vorsatz“ die Rede. Alles endet
bei einer Körperverletzung mit Todesfolge. Es ist 14.34 Uhr.
Jetzt übernimmt Sven G.s erster Verteidiger den Staffelstab. Man
habe – über die Dauer des Prozesses – auch auf dem Gang viel
gesprochen. Varianten diskutiert. Jeder versuche nun, aus den
möglichen Varianten etwas herauszupicken. Diesmal geht es um eine
„abgebrochene Kausalität“. Es geht noch einmal darum, was man zu
wessen Gunsten annehmen muss. Es gehe, sagt der Verteidiger, um eine
realistische Einschäztung. Wieso haben sich die Angeklagten
keinerlei Gedanken um die Entsorgung eines Leichnams gemacht? „Sie
sie einfach zu doof gewesen?“ Nein. Die Angeklagten sind davon
ausgegangen, dass am Ende des Geschehens ein Notarzt kommen würde,
um festzustellen, dass sich da einer in den Tod gespritzt hat. „Wir
müssen“, sagt der Verteidiger, „Zusammenhänge hesrtellen“. [Vier
Bilder hängen an der Wand ...] Geht es um eine „abgebrochene
Kauslalität“?
Um im Strafrecht von einem Taterfolg im Sinne des StGB sprechen zu
können, müssen diverse Tatbestände erfüllt sein. Doch zunächst muss
erst einmal überprüft werden, ob beziehungsweise inwieweit der
Taterfolg dem Täter überhaupt anzurechnen ist. Um dies
herauszufinden, wird zunächst die Kausalität zwischen der Handlung
des Täters und dem Taterfolg geklärt. Als zweiter Schritt wird
gegebenenfalls die objektive Zurechnung geprüft, wobei jedoch
zu beachten ist, dass ein Taterfolg dem Täter grundsätzlich
zugerechnet wird, wenn dieser ihn kausal verursacht hat.
Um den ursächlichen Zusammenhang zwischen Tat und Taterfolg
festzustellen, finden im Strafrecht verschiedene Theorien Anwendung.
Die relevanteste zur Bestimmung der Kausalität ist die
Äquivalenztheorie, in der die Conditio-sine-qua-non-Formel Anwendung
findet: hierbei wird davon ausgegangen, dass der Taterfolg sich
nicht eingestellt hätte, wenn die eigentliche Tat nicht als
Bedingung hierfür anzusehen wäre. Ist die Kausalität gegeben, kann
von einem objektiven Tatbestand im Sinne des StGB ausgegangen
werden, das bedeutet, dass derjenige, der deinen Schaden verursacht
oder einen Taterfolg erzielt hat, für diese Tat bestraft werden
kann.
Die Kausalität im Sinne der Äquivalenztheorie ist beispielsweise bei
einem Schuss aus einer Pistole gegeben, wenn dieser den Tod eines
Menschen zur Folge hatte.
Auch die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung ist relevant für die
Beurteilung von Kausalität im Strafrecht, wobei sich diese
inhaltlich an die Äquivalenztheorie anschließt. Demnach würde es
ausreichend sein, wenn die Tathandlung in irgendeiner Weise den
Taterfolg herbeigeführt hat. Dies bedeutet, dass die Ursächlichkeit
im Sinne des StGB gegeben ist, wenn der Taterfolg mit dem Verhalten
durch eine Reihe von Veränderungen in der Außenwelt gesetzmäßig
verbunden ist.
Des Weiteren wird die Kausalität nach der Adäquanztheorie beurteilt,
die dazu dienen soll, einen weit hergeholten Zusammenhang
auszuschließen und somit die Kausalität zu begrenzen. So kann
beispielsweise der Vater, der einen späteren Mörder gezeugt hat,
nicht für dessen Tat verantwortlich gemacht werden.
Wieder wird die Beurteilung des Zusammenhangs in das Ermessen des
Gerichts gestellt. Wieder geht es darum, was zu wessen Gunsten
angenommen werden muss. Dann geht es um den Gutachter. Gutachter,
sagt der Verteidiger, sind ein Hilfsmittel. Dem Gutachter von Sven
G. stellt die Verteidigung kein gutes Zeugnis aus. Unzureichend und
nicht objektiv war seine Arbeit. Sven G.s Verteidigung geht es
darum, die Sicherungsverwahrung in Zweifel zu ziehen. Der Gutachter,
so der Verteidiger, hat Dinge getan, die ihm nicht zustehen. Er hat
Beweisewürdigung vorgenommen. Er war nicht unvoreingenommen. Das
Gutachten: Fragwürdig. Bundesweit gibt es 550 Sicherungsverwahrte.
Der Verteidiger fragt das Gericht, ob man Sven G. wirklich in diese
Phalan einreihen möchte. Aberwitzig sei das. Gutachter, so der
Verteigider, seien nicht selten von der Angst vor einer Fehlprognose
geleitet. Was, so der Verteidiger, dächten die Gutachter, wenn sie
einen Irrtum eingestehen müssten? Lieber gleich auf Nummer sicher
gehen. Der Verteidiger sagt das nicht. Aber es lässt sich denken.
Das Wort „Schwachsinn“ fällt.
[Wikipedia: Als Schwachsinn wird im ursprünglichen Sinn
eine leichte bis schwere Intelligenzminderung bzw.
Minderbegabung bezeichnet. Während der Begriff in der
Psychiatrie heute nicht mehr verwendet wird, ist er in der
Rechtswissenschaft noch in Gebrauch. Umgangssprachlich wird der
Ausdruck heute auch synonym für „Unsinn“ verwendet.]
Ist Sven G. der Ausnahmemensch? Ist er einer von 550, die zu
gefährlich sind, um sie je wieder in Freiheit zu setzen? Da ist
einer, der sich selbst als Outlaw bezeichnet hat. Da ist einer, in
dessen Person das Klischee vom Bösen sich vergestaltet. (Der
Verteigider sagt das nicht.) Aber er spricht vom Outlaw. Er spricht
von den Tätowierungen. Er sagt, dass Sven G. vielleicht nicht
einzuschätzen vermochte, wie solche Tätowierungen von anderen
eingeschätzt werden. Er klopft seinem Mandanten auf die Schulter.
Der möge das nicht falsch verstehen. Vielleicht meint der
Verteidiger, dass sich Sven G. in ein Aus manöviert hat, das er nur
unzureichend einzuschätzen in der Lage ist. Nein – er will nichts
beschönigen. Es geht um eine grausame Tat. Aber es geht auch darum,
dass sein Mandant die Verantwortung zu tragen bereit ist. Es geht
darum, dass das Gericht eine Strafe verhängt, die noch eine
Perspektive lässt. Eine, die nicht alle Hoffnung absterben lässt. Es
ist 14.58.
Sven G.s zweiter Verteidiger offenbart ein Armutszeugnis. Er habe,
sagt er, genau das sagen wollen, was sein Kollege gesagt habe und
schließe sich den Ausführungen an. Man möchte hingehen und sagen:
Nimm ernst, was du tust. Du kannst dich so nicht wegstehlen.
Arbeitslos.
Nach den Kadenzen übernimmt die Kammer die Regie. Es gilt, letzte
Worte der Angeklagten zu hören. Sandra S.: „Es tut mir unendlich
leid. Ich wollte nicht, das Mark zu Tode kommt.“
Sven G. ist kaum in der Lage zu sprechen. Aussehen und Wirklichleit
trennen sich. „Nichts holt den Mark zurück.“
Mario A. schließt sich den Worten seiner Verteidiger an. Das Gericht
verkündet, dass man sich in zwei Tagen um 14.30 Uhr wieder treffen
wird. Dann: Das Urteil. Es wird ein großer Bahnhof werden.
Der letzte Tag
Es hat lange genug gedauert. Es ist der zehnte Tag. Finale: Für
14.30 Uhr hat die Kammer zur Urteilsverkündung geladen. Um 14.39 –
der Saal ist reichlich mit Zuschauern besetzt – betritt das Gericht
den Saal. Jetzt also: Im Namen des Volkes. Gefordert: Lebenslänglich
plus Feststellung der besonderen Schwere der Schuld (Sandra S.),
Lebenslänglich (Mario A.) und Lebenslänglich mit anschließender
Sicherungsverwahrung (Sven G.). Die Anwälte von Sandra S. plädierten
auf Körperverletzung mit Todesfolge und eine „zeitige“ Strafe
unterhalb von zehn Jahren. Mario A.s Verteidiger plädieren ebenfalls
für eine Körperverletzung mit Todesfolge. Die „zeitige“
Freiheitsstrafe stellen sie ins Ermessen der Kammer. Sven G.s
Verteidigung hatte nur ein
Anführungsstriche
Ziel: Keine Sicherungsverwahrung im Anschluss an das für sie sicher
zu erwartende „Lebenslänglich“.
Jetzt spricht das Volk. Es sagt: Drei Mal Lebenslänglich. Ein
„Gewinn“ für Sven G.s Verteidigung, die mit dem bescheidensten Ziel
angetreten war. Ein Gericht urteilt nicht einfach und verlässt den
Saal. Ein Gericht begründet. Ein Gericht erzählt die Geschichte der
Tat ein letztes Mal. Vorgeschichte – Geschichte. Der Vorsitzende
braucht viele Anführungsstriche. Das zehn Jahre dauernde Verhältnis
zwischen Sandra S. und dem späteren Opfer sei „sehr speziell“
gewesen, sagt er. Das Gericht glaubt nicht an 60 Vergewaltigungen
und mehr. Das Problem des Falls: Vieles lässt sich nicht mit
Sicherheit feststellen. Hat es wirkliche Vergewaltigungen im Sinne
des Gesetzes gegeben? Nein. Aber vielleicht nicht immer
einvernehmlichen Sex. Gewalt hat in der sexuellen Beziehung von
Sandra S. und dem Opfer in jedem Fall eine Rolle gespielt. Über eine
Stunde lang begründet Norbert Scheyda das Urteil. Da wollten, sagt
er an einer Stelle, Mario A. und Sven G. Sandra beim Lösen ihres
Problems behilflich sein. Alles jetzt ist vermint mit
Anführungszeichen. Sandras drastische Schilderungen dessen, was Mark
ihr angetan habe, führten die Angeklagten in die Tat. In einem
Nebensatz hat die Verlobte von Mario A. nochmals einen Kurzauftritt.
Sie sei, sagt Scheyda, „stärker in die Tat eingebunden, als sich
nachweisen lässt“. In der Schilderung des Gerichts ist es so, dass
„Sandra S. am Tatort dem Sven G. den Baseballschläger aushändigte“.
Dunkle Stellen gab es reichlich. Bis zuletzt wird unklar bleiben,
wie weit Sandra S.s Ehemann in das Geschehen eingebunden war. Was er
wusste er? Was nicht? War er während der Tat im Haus? All das:
Ungeklärt. „Vielleicht wollte er es auch nicht wissen“, sagt Norbert
Scheyda in Bezug auf den Ehemann.
Für die Kammer besteht kein Zweifel daran, dass es um einen Mord
ging. Das Opfer war arg- und wehrlos. Der Angriff: Eine vollkommene
Überraschung. Ein Gespräch, auch da ist die Kammer sicher, war nie
geplant. Wäre das der Fall gewesen, hätte man erwarten dürfen, dass
Sandra S. die beiden Männer einfach neben sich gestellt hätte, um zu
demonstrieren, dass da jemand auf sie aufpasse. Allein die
Postierung von Sven G. und Mario A. (einer mit dem Baseballschläger
gleich neben der Tür, der andere in einem Nebenraum – eine
Heroinspritze bereithaltend) mache klar: Es ging nicht um ein
Gespräch. Die Kammer habe aucch über das Mordmerkmal der „niederen
Beweggründe“ gesprochen, dafür jedoch nicht genügend Anhaltspunkte
gefunden. Fest stehe: Sven G. habe den ersten Schlag geführt, Mario
A. den letzten. „Was dazwischen passiert ist, wissen wir nicht.“
Dass Sven G. möglicherweise aus Hilfbereitschaft gehandelt habe,
wirke angesichts der Tat surreal und absurd. Scheyda
begründet, dass die Kammer im Fall von Sandra S. die besondere
Schwere der Schuld nicht aussprechen will. Er erklärt, warum man
sich gegen eine Sicherungsverwahrung für Sven G. ausspricht, warum
die Kammer für Mario A. die Kronzeugenregelung nicht als gegeben
sieht. Sandra S., sagt Scheyda, hatte das Hauptinteresse an der Tat.
„Sie hatte das Problem.“ Eine Maßregel im Fall von Mario A.? In
Anlehnung an das psychologische Gutachten zwecklos. Bei Sven G.
wären die formalen Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung
gegeben, aber das Gericht sieht in Sven G. keine besondere Gefahr.
Frühestens nach 15 Jahren, im Jahr 2030 also, wird man sich von
Seiten der Justiz damit befassen, ob Sandra S., Mario A. oder Sven
G. eventuell auf Bewährung entlassen werden können. Fast 70 Minuten
hat das Gericht gesprochen. Natürlich gibt es die Möglichkeit,
Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen.
konsequent
Muss man Mitleid haben? Gewiss nicht. Man hat eine Tat besichtigt,
in der es keine Gnade gab. Das Volk hat seine Antwort gegeben. Sie
ist nicht blutrünstig. Nicht von Rache gesteuert, aber klar in ihrer
Konsequenz. Das Volk beruhigt sich selbst. Urteile sind
Signale, Verweise auf das, was nicht sein darf. Urteile sind
gestutzte Wirklichkeiten. Übereinkünfte. Nicht Taten werden bestraft
– es geht um die Schuld, aber Schuld ist relativ. Taten sind –
manchmal – greifbar. Schuld ist es nicht. Ob das Gericht gut
gearbeitet hat ist wie die Frage nach der Schuld vom Standpunkt des
Betrachters abhängig. Im Fall von Sven G. ist das Schlimmste
abgewendet. Die Verteidiger von Mario A. und Sandra S. werden über
Revision nachdenken.
Man macht sich auf den Weg zurück in den Tag. Der Kollege von der
„Zeit“ muss zum Zug nach Berlin. Er hat morgen Geburtstag. Fast ist
man erschreckt, wie schnell Zrio und Urteil aus dem Bewusstsein
sacken. 2030 – eine Zahl außerhalb der Vorstellung, dass man bis
dahin eingesperrt wäre. Mindestens bis dahin. Alles Weitere wird man
sehen.
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Erstellt: 24.09.2015, letzte Änderung: 19.11.2015