Markus Fleuth ist 33. Ein sympathischer junger Mann — nicht eben der Prototyp des Schwerverbrechers. Heute allerdings ist der Tag. Heute läuft er Amok — streng dienstlich. Es geht um das Training eines Ernstfalls.
Erfurth hat vieles verändert. Auch bei der Polizei. Amok in Deutschland — das war lange Zeit eine Art fiktives Planspiel — etwas, das anderswo passiert. In Amerika vielleicht ... Dann kam Erfurth, und heute steht fest: Amok ist keine Lage, in der Abwarten das probate Mittel ist. Es muss gehandelt werden.
Für die Polizisten heißt das: Es kann jeden treffen. Wer zuerst da ist, geht rein. Und im Ernstfall bleibt nicht viel Zeit zum Überlegen. Handeln — das ist schon die zweite Instanz. Davor kommen Entscheidungen — und zwar solche, die in Sekundenbruchteilen zu treffen sind. Da ist Training gefragt. Ein Planspiel im Kopf ist die eine Sache — das Nachstellen einer realitätsnahen Situation eine ganz andere.
Man nehme: Eine beliebige Dienstgruppe, ein Gebäude, Waffen, eine akustische Kulisse, Schutzkleidung und zwei Trainer. In Zweiergruppen werden die Beamten in ihr Planspiel geschickt. Ist doch alles nur Spaß — denkt der Außenstehende und wird schnell eines Besseren belehrt. Was hier läuft ist alles andere als Cowboy und Indianer für Fortgeschrittene. Hier müssen Polizisten in Sekundenbruchteilen lebenswichtige Entscheidungen treffen. Hier wird geschossen — nicht scharf natürlich, aber mit Waffen, die beim Getroffenen eine Farbspur hinterlassen. Hier lässt sich nachher feststellen, wer auf wen geschossen hat und wohin. Und jeder, der schießt, tut das mit speziell gefärbten Ladungen. Alles wird nachvollziehbar. Gefährliche Situationen gibt es reichlich. Wer glaubt, hier würde uniformes Verhalten gedrillt, täuscht sich gewaltig.
Auf den Gängen des ehemaligen Kindergartens einer Kaserne hört man lautes Schreien und Schüsse — alles, was sich in Wirklichkeit auch abspielen könnte. Alles kommt vom Band. Aber wenn ein Zweierteam das Trainingsareal betritt, bleibt kaum Zeit für den Gedanken, dass hier ein „Spiel“ stattfindet.
Zwei Trainer beobachten das Geschehen — steuern es. Markus Fleuth und Simone Eerden gestalten das Szenario. Amok auf Anweisung. Einmal ist er der Böse — einmal sie. Und wer glaubt, mit Simone Eerden scherzen zu können, der irrt. Gewaltig. Wenn sie mit der Waffe im Anschlag über den Gang brüllt, ist Schluss mit lustig.
Mal gibt es nur einen Täter im Gebäude — mal werden zusätzliche Opfer rekrutiert, die dann bestimmte „Aufträge“ ausführen. Jedesmal ist alles anders. Jedesmal ist unterchiedliches taktisches Verhalten gefragt. Klar, dass es anders zugeht, wenn plötzlich zusätzliche Personen am Tatort auftauchen. Opfer? Täter? Gefährlich? Ungefährlich? Das alles sind Fragen, für deren Klärung kaum Zeit bleibt und die trotzdem in die Reaktionen der Beamten einfließen müssen. Niemand möchte an ihrer Stelle sein. Nicht mal im Training. Faustregel: Je mehr Leute, umso mehr Stress.
Die da antreten, müssen sich auf einander verlassen können — müssen eingespielt sein — müssen ahnen, was der andere tut. Und all das eingerechnet ist die Zahl der Unwägbarkeiten noch immer riesig. Ist der Mann, der aus einem der Räume gerannt kommt, ein Opfer? Ist er der Täter? Einfach schießen? Von wegen. Schließlich könnte es am Ende der Hausmeister gewesen sein.
Nach jedem Durchgang wird eine konstruktive Manöverkritik durchgeführt. Es geht zunächst einmal darum, richtiges Verhalten positiv zu bestätigen. Meckern bringt nichts, wenn es um Leben oder Tod geht. Das weiß hier jeder. Wenn am Ende einer Übungssequenz der Täter gestellt ist, wissen fast alle schon, was sie gut gemacht haben und was nicht.
Was hier abläuft, ist ein bisschen wie eine Schachpartie: die Figuren mögen immer dieselben sein — das Spiel ist immer anders. Es gibt keine zwei identischen Täter. Nicht einmal ein und derselbe Täter würde sich zweimal identisch verhalten. Für die Beamten bedeutet das: Was um 9.20 Uhr als gutes taktisches Verhalten gelobt wurde, kann um 10.06 Uhr mitten ins Desaster führen. Und wer am Ende getroffen wird, bekommt ein Gefühl für das Potential der Wirklichkeit. Schuss ins Bein — das kann man verkraften. Aber — auch das zeigen die Trainings: Mancher Kollege hätte den Einsatz nicht überlebt.
Früher wurden Trainings mit sogenannten Rotwaffen durchgeführt: Kein Treffer war möglich, denn der Lauf der Pistolen war verschlossen. Über eventuelle Treffer konnte nur spekuliert werden. Mit der FX-Munition ensteht eine Dikussionsgrundlage. „ ... und du bist tot!“ kann es jetzt heißen. Das ändert eine Menge in den Köpfen der Teilnehmer. Ein Training ist nicht mit der Abreise einer Dienstgruppe beendet. Was hier abgeht, wird auch nacher noch diskutiert. Konjunktive werden wichtig: Was wäre gewesen, wenn?
Jeder hier möchte den Ernstfall niemals erleben, aber alle wissen: Wenn es jemals soweit kommen sollte, ist Weglaufen nicht möglich. Dann kann ein gut trainierter Instinkt Leben retten. Das macht aus dem Training eine existentielle Übungseinheit. Und noch eines ist wichtig: Das Trainingsgelände ist kein rechtsfreier Raum. Hier kann nicht nach Gutdünken gehandelt oder gerichtet werden.
Wer die Teilnehmer fragt, welche Bedeutung sie dem Training beimessen, merkt schnell, dass niemand sich hier einen netten Vormittag macht. „In dem Augenblick, wenn du durch die Tür gehst, ist das kein Spiel mehr“, sagt einer und sie sind sich alle einig, dass es genau so ist. Und nicht nur darin besteht Einigkeit: Alle hoffen sie, dass es den „Fall Amoklage“ niemals geben wird.