Weimar – Genie und Wahn

Ein satter Blick ins Tal. Harz voraus. Buchen im Herbstkleid. Goethe, Schiller. Weltliteraturerzeuger. Die Gäste von heute: Weltkulturerben. Geschichte als Denkmal.  Nicht jedes Erbe möchte man antreten. Geschichte ist kein Supermarkt. Nicht im Nachhinein und schon gar nicht, wenn sie stattfindet.  Goethe-Haus, Schiller-Haus. Schillers Kaufhaus:  Schmucklosnichtssagende Tagesarchitektur von der Stange. Wer noch dabei war:  Bach, Liszt, Wagner, Grieg. Ein besonderer Ort.

Die Audioguide-Stimme erzählt von freudlosen Tagen – reiht Fakten auf, reibt an der Seele. Im Schiller-Haus: Möbel, Zitate. „Geschichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie ...“ (Schiller an Caroline von Beulwitz). Schreibfedern im Museumsshop. Von der Fleckfieberbaracke sind nur Fundamente geblieben.  Alles hat sich aus dem Staub gemacht. In den Staub. Vom Genie in der Stadt zeigen sie alles – vom Wahnsinn hier nichts als karge Reste, die man zu jenem Grauen zusammenbaut, das ohnehin in keinen Kopf passt. Erinnern als Programm. Im Bauhaus-Museum: Wege zum Schönen. Am Lagertor: Wege in den Untergang. Stille über dem Land. Vielleicht muss, wo Geschichte so viel Genie zurückgelassen hat, das Grauen zum Nachbarn werden. Vielleicht ist es nur ein von Dramaturgie gespeister Kunstgriff, dass beides in derselben Stadt wohnt.  Vielleicht muss bewiesen werden, dass wir nicht nur Dichter und Denker sind. Wir haben auch das Zeug zur Architektur des Untergangs. Das Unheil wächst überall. Mittelmaß zieht Mittelmaß an: Grenzlinien sind nicht notwendig. Literatur hier – Sprachlosigkeit dort. Wortgewalt hier – Unsagbarkeit dort.  Ein Hinweisschild vor den Ruinen der Häftlingswäscherei erklärt, hier habe die Goethe-Eiche gestanden. In der Stadt – rot auf eine Mauer gesprayt: „Deutschland, du Opfer.“ Schiller-Haus: „Das macht dann 17.50 Euro. Die Taschen bitte ins Schließfach. Fotografieren bitte ohne Blitz. Möchten Sie einen Führer?“ Die Frage passt zehn Kilometer weiter besser. Am Ende der Blutstraße: Buchenwald. „Wir nehmen hier keinen Eintritt. Sie können nachher eine Spende da lassen.“ Auf dem Todesgelände: Regeln für die Besucher. [In Nevada, unweit von Las Vegas, gibt es ein pseudohistorisches Städtchen mit Touristenstundenplan: 10 a.m., 2 p.m., 4 p.m.: Hanging. $ 15.] Hier steht die Zeit. Buchenwald taugt nicht für die Werbung. Am Ende des Rundgangs: Das Krematorium. Eine Frau weint sich durchs Elend. Vor den Öfen: Zwei Jugendliche mit Smartphones  „Nicht wirklich?“ „Doch.“ „Kein Empfang.“ Ein älterer Herr fragt nach den Toiletten. Auf dem Parkplatz ein Bushaltestellenschild: Kein Einstieg. Am Ausgang: SMS von einem Freund. „Erreich’ dich nicht. Wo steckt ihr?“ „Kurzurlaub. Weimar. Genie und Wahn. Mittags KZ, abends Lammrücken.“ Über allen Wipfeln ist Ruh’.


Heiner Frost
Erstellt: 24.09.2015, letzte Änderung: 18.10.2015