Und jetzt noch mal mit 50 Sachen!


Prävention ist reine Theorie? Die Fahrt auf dem Gurtschlitten ersetzt Dozieren durch Erleben. Ein Rums sagt mehr als tausend Worte.



Ich doch nicht

Johannes Look arbeitet beim Kommissariat Vorbeugung. Aber er ist auch beim Opferschutz. Wenn er Bereitschaft hat und sein Handy klingelt, fangen Geschichten an, die ganze Leben aus der Bahn werfen. Geschichten, die Look erzählt, lassen eine Spur des Schweigens entstehen. Look hat eine Botschaft: 23 Verkehrstote im Jahr sind, egal wie man es dreht und wendet, 23 Tote zu viel. Punkt.

Aber der Tod im Straßenverkehr ist für viele nur Theorie. Natürlich trifft es immer die anderen. 'Ich doch nicht', denken die meisten, und so viel ist sicher: Jeder, den es trifft, hat einmal dasselbe gedacht.

Erleben statt Dozieren

Prävention bedeutet Vorbeugen. Vorbeugen ist häufig nicht mehr als Theorie. "Du kannst jemandem vorrechnen, was passiert, wenn ein nicht angeschnallter 80-Kilo-Mann vom Rücksitz eines Autos bei einer Aufprallgeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern nach vorne katapultiert wird. Das geht dann bei den Zuhörern meist hier rein und da raus. Du kannst sie aber auch auf den Gurtschlitten setzen und Dozieren durch Erleben ersetzen." Die Formel: Ein Rums sagt mehr als tausend Worte.

Wir haben ein Problem

Heute sind Look und seine Kollegen Werner Michaijletzko und Peter Hannen in der Konrad-Adenauer-Hauptschule. Bei den Zehnerklassen. Look schreibt, wenn er die Klasse betritt, seinen Namen an die Tafel. Dann kommt das Warm-Up. Ein bisschen reden über dies und das. Wie war's Karneval? Einige haben Look gesehen. "Waren Sie nicht auch beim Zug in Kranenburg?" War er.

Dann kommt Look zur Sache. "Wir haben ein Problem", fängt er an und erzählt den Schülern, wie es ist, wenn er irgendwo schellen muss, um eine Todesnachricht zu überbringen. Look und seine Kollegen haben das oft genug gemacht. Sie haben immer wieder den Schock der Angehörigen und Freunde miterlebt; haben gesehen, wie Leben auseinanderbrechen, Entsetzen sich breit macht. Und Fassungslosigkeit.



... die paar Meter

In der Klasse ist es mit einem Mal totenstill. Dann die Schlüsselfrage: "Seid mal ehrlich: Wer von euch schnallt sich im Auto nicht an?" Ein paar Jungs zeigen auf. "Wenn ich nur mal eben zum Sportplatz mitfahre, dann muss ich mich doch dafür nicht anschnallen. Für die paar Meter ...", sagt einer.

"Auf dem Rücksitz schnall' ich mich nicht an", sagt ein anderer. "Wenn es fürs Nichtanschnallen keine Knöllchen geben würde, möchte ich nicht wissen, wie die Zahlen aussähen", wird Look später sagen.

Look hat ein großes Poster dabei: Darauf ein Blechhaufen, der einmal ein Auto gewesen sein muss. Fünf Menschen haben in dem Auto gesessen, als von hinten ein 40-Tonner ungebremst aufgelaufen ist und das Auto in den Gegenverkehr katapultierte, wo es gegen einen zweiten Lastwagen prallte.

Allen ist klar: Sowas überlebst du nicht. Aber manchmal kommt es anders: Sie haben alle überlebt: Der Vater, zwei Kinder, die Mutter und das ungeborene Baby in ihrem Bauch. "Ihr habt im Auto nur eine Lebenversicherung", sagt Look. "Das ist euer Gurt." Und noch eines sagt er: "Ich mache diesen Job seit 30 Jahren. Und so viel ist sicher: Ich habe noch keinen Unfall erlebt, bei dem jemand überlebt hat, weil er nicht angeschnallt war." Noch immer starren sie alle auf das Bild mit dem Blechpaket.

Ein Schlitten, der keinen Schnee braucht

"Was haben Sie denn da draußen für ein Ding auf dem Schulhof aufgebaut?" will einer wissen. "Das werden wir uns jetzt mal anschauen." Jacken an und raus zur Praxis. Draußen steht der Schlitten, für den man keinen Schnee braucht. Auf einer schrägen Rampe eine Schiene: Darauf ein Autositz mit Gurt. Das ist alles. Der Sitz ist oben arretierbar. Man setzt sich, schnallt sich an, dann wird die Sperre gelöst, und es geht abwärts. Ein kurzes Stück nur. Unten landet der Sitz an einer Sperre und prallt gegen eine Art Prellbock am Boden der Schiene. Simulationsgeschwindigkeit: Zehn Ka Emm Ha. Ein Hauch von Nichts auf dem Weg in den Abgrund.

Freiwillige vor. Freiwillige finden sich immer. Lachend klettern sie über eine Leiter auf den Schleudersitz. "Hast du noch einen letzten Wunsch", flachsen Look und die Kollegen. Dann legen sie den Schalter um. Der Sitz saust nach unten und landet mit einem lauten Knall am Prellbock. Eine bleibende Erfahrung. "Das waren jetzt zehn Stundenkilometer", sagt Look. "Wie wär's denn jetzt noch mal mit 50 Sachen?" Muss man nicht wirklich haben.   

Das Schlittentatoo

So eine Schlittenfahrt ist wie ein Tatoo im Verkehrshirn. Das wäschst du nicht einfach beim nächsten Duschen raus. Das sitzt. Tiefer als die Testfahrer es sich wünschen mögen. So ist der Schlitten. Alles andere als eine Schulhofgaudi. "Mehr kannst du in drei Sekunden kaum vermitteln", ist sich Werner Michaijletzko sicher.

Und selbst die kurze Fahrt zum Sportplatz (Wie erinnern uns: "Da brauch ich mich doch nicht für anschnallen!") findet, das wird jetzt allen klar, mit wesentlich höheren Geschwindigkeiten als 10 Ka Em Ha statt. 

Viele der Schüler fangen demnächst mit dem Führerschein an. Da ist das Schlittentatoo genau die richtige Einstiegsmaßnahme.

Grob fahrlässig

Look erzählt noch eine Geschichte. Einer jungen Frau von 32 Jahren musste er mitteilen, dass ihr Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Die Familie: Zwei Kinder, das Haus gerade gekauft. Die Frau kommt zwei Tage nicht zu sich. Steht unter Schock. Nach zwei Tagen beginnt sie zu begreifen. Nur einen Trost hat sie: Ihr Mann hatte eine Unfallversicherung abgeschlossen. Die Existenz oder das, was noch davon übrig ist, scheint gesichert. Ein kleiner Trost im Meer der Verzweiflung. Dann meldet sich die Unfallversicherung. Ein Gutachten hat ergeben: Der Mann war nicht angeschnallt. Grobe Fahrlässigkeit.

Von der Versicherungssumme wird nur ein Bruchteil ausgezahlt. Die Existenz ist jetzt auch auf der anderen Seite zerbrochen. Das Haus muss verkauft werden — die Zukunft wie zerschossen. Eine Geschichte, die wirkt, auch wenn die, die sie hören, noch weit davon entfernt sind, die Tragweite zu begreifen.

Nein, Look und seine Kollegen wollen nicht einfach bange machen. Aber wenn die Betroffenheit und das Schlittentatoo bewirken, dass sich künftig auch nur einer anschnallt, der es vorher nicht getan hat, ist das ein erster Erfolg.



Heiner Frost
Erstellt: 18.03.2007, letzte Änderung: 18.03.2007