Wo hat Oma ihre Zähne?

So sind alte Leute nun mal

Christina ist 29 und hat drei Kinder: Ben ist vier, Lotte zwei und Klara neunundsiebzig. Als Christina und ihr Mann vor fünf Jahren ins neue Haus zogen, gab es die Kleinen noch nicht — aber Oma Klara gab es schon. Alles war in Ordnung. Gut, die Oma war schon mal das, was man tüddelig nennt, aber: So sind alte Leute nun mal, dachte Christina. Damals arbeitete sie noch in ihrem Job als Apothekenhelferin. Gerd, ihr Mann, ist Krankenpfleger.

Dann kamen die Kinder. Und es kam die Verwirrung. Oma fing an, Dinge zu vergessen. "Anfangs kann das ganz lustig sein", erinnert sich Christina. Die Oma hat vergessen, wo die Zähne sind. "Aber irgendwann begreifst du, dass da Veränderungen passieren, die nicht normal sind." Nicht, dass Oma Klara nicht gesund wäre — "die ist topfit", beschreibt Christina den Allgemeinzustand, "aber Demenz ist halt so eine Sache ..."

Da bleibt nicht viel vom Urlaub

Längst kann Christina nicht einfach mehr 'mal eben was unternehmen'. Die Jüngste kann sie nicht mit der Oma allein lassen, wenn sie den Ältesten morgens zum Kindergarten bringt. Das könnte gefährlich sein. Nicht, dass Oma gefährlich ist. "Aber wenn die Kleine auf den Stuhl steigt, würde Oma nichts unternehmen. Sie würde dasitzen und sich das ansehen."

Foto: Rüdiger Dehnen

Oma Klara ist längst zum 24-Stunden-Fall geworden. Dinge, die in anderen Familien normal sind, gehen bei den Frerichs nicht ohne generalstabsmäßiges Planen. Als Christina im letzten Jahr mit ihrem Mann sechs Tage Urlaub machte, war Oma Klara im Pflegeheim. "Viermal wurden wir angerufen, weil die Oma plötzlich weg war. Da bleibt nicht viel vom Urlaub. Da machst du dir Gedanken und kannst nicht abschalten, solange du auf die Nachricht wartest, dass sie wieder aufgetaucht ist", erinnert sich Christina.

Klara hat keinen Durst

Sie hat lange gebraucht, bis sie gemerkt hat, dass Oma Klara langsam in ihrer eigenen Welt lebt. Da hilft es nichts, die 'Omawelt' als Ausnahmezustand zu definieren und die eigene als das 'Normale'. Wenn Oma Klara ein grünes Handtuch für blau hält, dann ist es eben blau. Das allerdings wäre ein leichter Fall.

Oma Klara hat keinen Durst. Wenn Christina ihr nicht das Trinken 'befehlen' würde, müsste Oma Klara verdursten. Appetit ist relativ. Die Oma kann nicht unterscheiden zwischen viel und wenig. Auch mit dem Zeitgefühl klappt es nicht mehr. "Im Winter, wenn es gegen fünf Uhr dunkel wird, legt Oma sich schlafen", beschreibt Christina. Nur kann es passieren, dass Oma Klara morgens um drei Uhr aufsteht und sich anzieht. Daher werden die Anziehsachen abends aus dem Zimmer genommen. So bleibt sie im Bett. Das mag auf Außenstehende hart wirken, aber Christina braucht die Nacht zum Entspannen. Ein Tag mit Klara ist lang und anstrengend.

Als die Frerichs damals einzogen, wusste niemand, wie die Situation mit Oma einmal werden würde. Jetzt wissen sie es. Aber sie kennen wenig Menschen, die das nachvollziehen können. Die meisten wollen nichts davon hören oder sagen: "Mein Gott. das ist doch alles halb so schlimm."

Wie es läuft in einem solchen Leben

Dass eine Situation wie die von Christina oft genug die Nerven bis an die Zerreißgrenze spannt, begreifen die wenigsten. Privates gibt es kaum. Ständig ist Christina beschäftigt mit ihren 'drei' Kindern. Nein — sie fühlt sich nicht als Märtyrerin, aber sie möchte ab und an, dass jemand versteht, wie es läuft in einer solchen Situation — in einem solchen Leben.

Sie möchte nicht, dass ihr Name genannt wird. Es gibt auch in unserer pseudoaufgeklärten Zeit so etwas wie Tabu-Themen. Über Altersdemenz spricht man nicht. Schlimm genug.  Wer seine Demenzkranken Angehörigen pflegt, wird schnell Objekt von Klatsch und Tratsch. Demenz ist etwas Peinliches. Wahrscheinlich auch deswegen, weil niemand sich auskennt. Und wie wirkt es, wenn jemand bei den Nachbarn fragt: "Habt ihr meine Oma gesehen, die ist mir weggelaufen?" Wer es nicht selbst erfährt, weiß nicht, was abgeht.

Du musst nicht alles von vorne erklären

Grund genug für die Klever Familienbildungsstätte, einen Kurs mit dem Titel 'Verwirrtheit im Alter' anzubieten. Christina hat sich angemeldet und endlich Menschen kennen gelernt, die ähnliche Sorgen haben, ähnliche Situationen erleben, ähnliche Erfahrungen machen — eine unbeschreibliche Erleichterung. "Du musst nicht alles ständig von ganz vorne erklären. Wenn ich anfange mit 'Oma hat heute', dann wissen die anderen, was jetzt kommt." Die Teilnehmer können Betroffenheiten austauschen, Erfahrungen und Ratschläge.

Gerald Bestier, Leiter der fbs Kleve: "Es ist schön zu sehen, dass sich da etwas bewegt, dass die Teilnehmer diesen Kurs als persönliche Bereicherung empfinden und alles tun, um keine Stunde zu verpassen." Obwohl das nicht immer einfach ist. Das weiß auch Christina: Wenn sie aus dem Haus möchte, muss alles organisiert sein. Einfach mal rausgehen — das ist nicht drin. Trotzdem ist es enorm wichtig, etwas für das eigene Leben zu tun, ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Die Kraft, die man für die Pflege braucht, muss einen Ursprung haben. Irgendwo muss aufgetankt werden. "Sonst hältst du das auf die Dauer nicht durch."

"... aber Kinder schrumpfen nicht"

"Es ist schon komisch: Am Ende wirst du wieder zum Kind — aber Kinder schrumpfen nicht und sie lernen aus Fehlern. Bei demenzkranken alten Menschen funktioniert das nicht mehr."

Manchmal wünscht Christina sich mehr Verständnis für ihre Situation, aber die meisten verstehen halt nicht, was sich da abspielt. Wie auch? Oma Klara liest fünfmal am Tag die Zeitung. Wenn man sie fragt, was drinsteht, weiß sie es nicht. Wenn Christina nach dem gemeinsamen Frühstück abwäscht und die Oma bittet, beim Abräumen zu helfen, weiß Klara nicht, wohin mit dem Geschirr, obwohl es zur Spüle gerade mal drei Meter sind. Es nützt wenig, Oma Klara zu sagen, sie soll sich die Zähne putzen. Man muss ihr Bürste und Zahnpasta in die Hand drücken. Sonst geht es nicht. Das Ganze findet nicht in einem bestimmten Zeitfenster statt — ein Pflegefall ist nicht nur drei Stunden am Tag Pflegefall: Das dauert den ganzen Tag und zehrt an Kräften — manchmal zerrt es auch an den Kräften. "Manchmal bin ich ungeduldig", räumt Christina ein, "manchmal werde ich sogar irgendwie zynisch. Fünf Minuten später denke ich dann: Wenn du jetzt an Omas Stelle wärest, dann würde dich das verletzen." Dass Christina jetzt im Rahmen des Kurses auf Menschen trifft, denen es ähnlich geht, ist schon eine Riesenhilfe. Es hilft zu wissen, dass man nicht allein ist. Eine Selbsthilfegruppe gründen? Im Prinzip keine schlechte Idee. Aber die Zeit — woher soll sie die Zeit nehmen? Mal sehen: Vielleicht bleiben ja die Kursteilnehmer in lockerem Kontakt. "Wenigstens alle drei, vier Wochen ein Austausch. Das wäre schön."

Manchmal fühlt Christina sich schuldig; denkt darüber nach, ob sie alles richtig macht. Das vergeht, denn sie weiß: Oma Klara ist zu Hause, umgeben von Enkeln und Urenkeln. Dieses Glück haben längst nicht alle alten Menschen. Würde Christina denn alles noch mal machen, wenn sie könnte. Die Antwort kommt schnell und ohne Zögern: Ja, das würde sie. Ein paar Dinge würde sie anders machen. Aber sie würde es wieder tun. "Es ist ja auch sonst niemand da", sagt sie und schaut ihre Oma an, die während des ganzen Gespräches am Tisch gesessen hat. 

Oma Klara lächelt. Geredet hat sie nichts. Die ganze Zeit hat sie zugehört. "Wenn Sie jetzt gehen und in drei Minuten noch einmal wiederkommen, wird die Oma Sie nicht erkennen. Sie weiß dann nicht mehr, dass Sie hier waren", sagt Christina. Und sie weiß auch nicht, ob Oma Klara überhaupt verstanden hat, dass wir eine Stunde lang über sie gesprochen haben. Zum Abschied drückt sie meine Hand und lächelt. Wahrscheinlich habe ich in Oma Klaras Kopf nie stattgefunden ...


Foto: Rüdiger Dehnen



Heiner Frost
Erstellt: 18.03.2007, letzte Änderung: 18.03.2007