Wir waren zu zweit unterwegs. Ich hatte mich für eine Woche von meiner Frau beurlauben lassen. Alexander sei eine gute Gesellschaft, meinte sie. Und sie meinte auch noch etwas in der Art, daß ich von Alexander lernen könne. Daß gerade er mich eingeladen hatte, kam urteilserleichternd dazu. "Wir fliegen oder nehmen die Bahn", hatte er gesagt. Niemals hätte Alexander gesagt "Wir fahren mit dem Zug." Am Ende flogen wir. Nicht zuletzt, so sagte er mir später einmal, sei einer der ausschlaggebenden Gründe für die Wahl dieses Transportmittels der gewesen, daß im Flugzeug nicht geraucht werden dürfe. Und - so weiter - da ich ein starker Raucher sei, habe er es mir nicht antun wollen, daß ich mich zu ihm in ein Nichtraucherabteil der ersten Klasse hätte setzen müssen, ständig die Möglichkeit vor Augen, mich wegzuschleichen, um meinem Laster nachzukommen. Da sei es beruhigender, diese Möglichkeit erst gar nicht in Existenz zu wissen. Fliegen also. Zwar nicht erster Klasse, aber eben rauchfrei. Über das Ziel hatte es nie einen Zweifel gegeben: Berlin. Schon allein die Zahl der Kinos, so Alexander, habe ihm keine andere Wahl gelassen. Und: das Adlon. Nicht, daß er geplant hatte, dort abzusteigen - aber das Adlon müsse ich gesehen haben.
Anreise zum Flughafen mit der Bahn. Alexander bevorzugt für einstündige Bahnfahrten die Neue Zürcher Zeitung. Ich griff mir eine Partitur und die Marker. Er ließ mich von einem Taxi abholen. Das Gefühl der Anreise wirke sich - so Alexander - entscheidend auf den Restverlauf aus. Ich hatte angeboten, daß meine Frau uns zum Bahnhof fahren könne. Er hatte rundheraus abgelehnt. Nichts wirke sich ungünstiger auf einen Reiseverlauf aus als eine sich nicht in optimaler Stimmung sich befindende Ehefrau, die womöglich mit selbstgeschmierten Butterbroten am Bahnsteig stünde und nebenbei gute Ratschläge erteilte.
Auch die Wahl von Taxiunternehmen und Fahrer, so Alexander, müsse ich ihm überlassen. Unbedingt. Der Fahrer hatte die strikte Anweisung erhalten, den Wagen nur vor unserem Haus zum Stillstand zu bringen und auf mein Erscheinen zu warten. Ich war ohnehin viel zu früh wach. Nichts ist schlimmer als eine Abreise. Der Fahrer öffnete den Kofferraum, danach die linke hintere Tür. Alexander würde am Bahnhof auf mich warten.
Meine Frau hatte mich abends zuvor verabschiedet und mir einen Umschlag übergeben. Viel Spaß wünschte sie mir. Über einen Anruf würde sie sich freuen und für alle Fälle habe sie mir einen Berliner Stadtplan besorgt. Zu Intimitäten war es nicht gekommen. Wenn Alexander es schon seit viereinhalb Jahren ohne die Frauen schaffte, dann - so dachte ich mir - müsse es möglich sein, ohne einen vorabendlichen Beischlaf das Haus zu verlassen. Die Tatsache, daß meine Frau und ich schon immer in getrennten Betten schlafen, erleichterte die Umsetzung meines Vorhabens ungemein. In meinem Koffer befanden sich - außer dem von meiner Frau gepackten Kulturbeutel - ein paar Jeans, ein zweites Paar Schuhe, zwei Hemden, ein schwarzer Blazer, ein Pullover, ein schwarzer Anzug und ein Mantel. Kein Schirm. Das Handgepäck: eine lederne Aktentasche mit Schreibzeug, einer Partitur, ausreichend Zigaretten, ein Deo, Donald Spotos Hitchcock-Biographie.
Natürlich stand Alexander schon in der Bahnhofsvorhalle, als ich aus dem Taxi stieg. Ein mattschimmernder schwarzer Anzug, kein Mantel, aber mit Borsalino auf dem Kopf - so kam er mir entgegen und überreichte mir die Fahrkarte. Er habe, sagte er, noch nicht gefrühstückt und daher vor, den Speisewagen aufzusuchen - vorausgesetzt mein Mitkommen.
Ihm sei, so sagte er angesichts des ersten Auftauchens eines Kellners, den er nicht Kellner nennen mochte, (Er sagte tatsächlich: "Ich mag diesen Menschen nicht Kellner nennen - Ober schon gar nicht.") aufgefallen, daß es den Deutschen an Würde fehle. Bei seinem letzten Besuch im Libanon habe er Menschen gesehen, die sich ihre Würde bewahrt hätten. Immer wieder sei es ihm unverständlich, daß etwas wie der Begriff der Menschen-Würde (er trennte die Substantive überdeutlich durch lange eine Pause) ausgerechnet europäischen Ursprungs sei. Auch die Frauen seien nur in den allerseltensten Fällen mit einer Eigenschaft ausgestattet, die er nur unzureichend mit dem Wort Haltung umschreiben könne. Gerade vor zwei Tagen haben er damit begonnen, eine Geschichte über eben diesen Zustand zu verfassen. Allerdings sei er bis jetzt nicht über die ersten vier Sätze hinaus. Lange schon habe ihm das Schreiben nicht mehr solche Qualen bereitet wie in den letzten beiden Monaten.
Während des Fluges, der gut eine Stunde dauerte, trank Alexander lediglich einen Whiskey und ließ sich dazu ein Glas Wasser bringen, das er allerdings nicht anrührte. Wir sprachen nur beiläufig über mein Opernprojekt. Musiktheater sei seine Sache nicht. Die Menschen an der Oper seien ihm allesamt zu aufgeblasen. Fesselballone der eigenen Eitelkeiten seien sie.
Zwischendurch blätterte er im Wirtschaftsteil der Neuen Zürcher und lobte Casanova, den Erfinder der Lotterie. Er habe, sagte er mir kurz bevor wir in Berlin landeten, bereits die Kinolandschaft im Internet studiert und ein passendes Paket sehenswerter neuer Filme zusammengestellt. Gerhards Wohnung - er kenne Gerhard schon seit ihrer gemeinsamen Kindergartenzeit - Gerhards Wohnung befinde sich in Charlottenburg und zu groß, als daß man sich gegenseitig belästigen müsse. Den Schlüssel habe Gerhard beim Portier hinterlegt und ein Kennwort vereinbart, gegen dessen Nennung dieser ihn auch herausgeben werde. Das Kennwort, das Gerhard mit dem Portier vereinbart habe, laute Notopfer.
Alexander hatte für den ersten Abend einen Tisch bei einem Italiener bestellt. Kein Kino am ersten Abend. Wir aßen Polenta. Polenta tauche, so Alexander, auch in Bertoluccis Neunzehnhundert auf. Kaum ein Italiener bringe es fertig, dieses eigentlich durch und durch ärmliche Gericht auf der Speisekarte zu plazieren. Da müsse es einer, so meinte er, wirklich geschafft haben. Polenta mit gefüllter Ente sei etwas, das ich bestimmt in der Lage sei, später nachzukochen, meinte Alexander. Nach einem Essen gehe er gern in eine Hotel-Lobby. Man komme sich berufen vor. Es sei allerdings erforderlich, sich nicht von einem Lehrling bedienen zu lassen. Der Kaffee koste in einer solchen Lobby auch nicht mehr als anderswo. Aber man trinke ihn mit einem anderen Gefühl. Nicht immer einfach sei es, in die Lobby vorgelassen zu werden. Alles hänge vom Blickkontakt mit dem Türsteher ab. In Wien allerdings besuche er Kaffeehäuser. Da könne man mit einem Buch stundenlang einfach dasitzen, ohne gleich zu Nachbestellungen gedrängt zu werden.
In den letzten Tagen habe er, erzählte Alexander, als wir den Nachtisch erreicht hatten, eine erotische Erzählung begonnen. Er scheitere allerdings am Eigentlichen. Das Eigentliche bei einer erotischen Erzählung sei nun einmal die Erotik. Hier sehe er eine mehr als deutliche Parallele zu meinem derzeitigen Opernprojekt. Schließlich müsse ich einsehen, daß das Eigentliche an der Oper der Gesang sei. Um so mehr wundere es ihn, daß ich - mit meiner geradezu leidenschaftlichen Verachtung des Sängervolkes - ausgerechnet ein Opernprojekt angenommen habe. Er teile durchaus meine Meinung in bezug auf die Sänger, nur müsse er auch keine Oper schreiben. Lieder - seine Welt. Nicht Schumann. Schumann sei die Ohnmacht in Tönen. Er habe eine zeitlang an einem Buch gearbeitet, daß den finalen Beweis antrete, Schumann habe niemals existiert. Allein der Gedanke, daß Schumann nie gelebt haben könne, erfülle ihn mit einer ungeahnten Leichtigkeit. Die durch diesen Gedanken entstandene Leichtigkeit habe das Schreiben des Buches überflüssig gemacht. Danach habe er lange Zeit mit dem Gedanken gespielt, sich in Spanien anzusiedeln - in einer Art Einsiedelei. Einzig mit einem Gärtner und einer Haushälterin, ansonsten ohne jegliche Kontaktmöglichkeit zur Außenwelt habe er leben wollen. Später habe er dann seine Meinung geändert und eine Kontaktanzeige aufgegeben: Lasse mich zum Essen einladen - Chinesisch zwecklos. Eine einzige Zuschrift habe er bekommen - von der Kuratorin einer Ausstellung, die gerade für zwei Wochen in der Stadt gewesen sei. Eine Frau ohne Haltung. Später habe ein anderer den Text seiner Anzeige leicht abgewandelt kopiert ("Lasse mich zum Bier einladen - Kölsch zwecklos") und damit große Erfolge erzielt.
Den Restabend - wir trafen gegen 22 Uhr wieder in Gerhards Wohnung in Charlottenburg ein - verbrachten wir in unseren Zimmern. Ich studierte das zweite Brandenburgische Konzert, Alexander las Jules Vernes. Ich telefonierte kurz mit meiner Frau, die mich fragte, ob ich ihren Brief bereits gelesen habe.
Nach dem Frühstück fuhren wir zu Mendelssohns Grab. Eine öde Grabstätte: Bruder und Schwester. Der Briefwechsel Felix und Fanny sei etwas, das ich unbedingt lesen müsse. Nicht nur, weil ich doch Musiker sei, sondern schlicht und ergreifend, weil es sich um etwas Existenzielles handele, ganz anders als die Tucholsky-Briefe, die er auf mein Anraten hin studiert und für belanglos befunden habe. Unser ungelebtes Leben - schon der Titel sei dem Inhalt abträglich. Immer wieder habe er sich innerlich an diesem Titel gerieben. Melancholie bewege nichts. Trotzdem habe er für den Abend Tornatores Legende vom Ozeanpianisten ausgesucht. Tornatore leide fortgesetzt unter der Tatsache, daß sein erster Film der beste sei. Man müsse sich bemühen, alles Gesehen zu vergessen, um diesem Film irgendwie gerecht werden zu können. Kritiken lese er seit langem nicht mehr. Kein Kritiker, auf den noch Verlaß sei. Manche zwar mit einer hohen Trefferquote aber dann wieder im entscheidenden Moment unachtsam und lauter Müll verbreitend. Er habe einmal anläßlich einer Preisverleihung von den Kritkern als einer Kaste der Unberührbaren gesprochen und damit bis heute anhaltende Feindschaften gestiftet. Tornatore sei wie ein Lied - de Palma wie eine verununglückte Oper.
Mein letztes Streichquartett habe ihm übrigens gefallen. Das, so Alexander, müsse ich wissen. Bei vielen Komponisten frage er unausgesetzt, ob sie das von ihnen Geschriebene auch wirklich selber anzuhören wünschten. Er müsse diese Frage allzu oft mit einem klaren Nein beantworten. Stockhausen sei einer der größten Sucher und finde beständig nichts anderes als Stockhausen. Traurig genug.
Neulich habe ihn eine Chefredakteurin angerufen und zu einer Lesung gebeten. Er habe rundheraus abgelehnt, nachdem er ihre Texte gelesen habe. Ansammlungen neutorischer Sprachfindungsprozesse - allesamt therapiegesteuert. Schlichtweg unmöglich. Vor Lesungen spreche er tagelang die Texte leise vor sich hin. Nichts schlimmer als ein Autor, der es nicht verstehe, den eigenen Text zu lesen.
Nach einem Konzertbesuch habe ihm die Solistin des Abends - eine gut aussehende aber hirnlose Geigerin - anläßlich eines Empfangs der Sponsoren Avancen gemacht. Er habe höflich abgelehnt. Längst besitze er ein eigenes Büchlein, in dem er solche Anlässe notiere. Seit viereinhalb Jahren notiere er sich jede einzelne Auslassung und verschaffe sich allein dadurch die ab und an nötige Befriedigung. Die einzige Frau, die ihn in dieser Zeit wirklich beeindruckt habe, sei eine junge Französin gewesen, die er - ein Buch lesend - in einer Schlange vor einem Pariser Kino entdeckt habe. Immer wieder müsse er an diese junge Französin denken, die anzusprechen ihm nicht möglich gewesen sei.
Für unseren dritten Tag hatte Alexander vorgesehen, daß sich jeder allein mit der Stadt beschäftigen solle. Beim gemeinsamen Frühstück diskutierten wir die Legende vom Ozeanpianisten und endeten - wie eigentlich immer - bei Leben und Werk von Alfred Hitchcock. Hitchcock, so Alexander, sie genau die Form des Genies, die ein ganzes Leben lang an einen einzigen Gedanken gefesselt sei - ähnlich wie übrigens auch Tornatore, dessen Filme immer mit der sentimentalen Demontage der Kindheit zu tun hätten. Schließlich erreichten wir noch den Begriff Heimat. Meinen Satz, das Heimat eine Träne im Rücken sei, halte er für einen poetischen Vor-Posten. Nichts als ein Wortgebläse, das keiner noch so seichten Hinterfragung standhalten könne. Heimat, so Alexander, sei eine Ballung schlafender Gewohnheiten. Danach trennten wir uns bis zum Abendessen.
Ich fuhr nach Kreuzberg und saß stundenlang auf einer Bank - in der Hand den Brief meiner Frau. Stundenlang dachte ich darüber nach, was wohl in dem Brief stehen könne. Meine Frau hat mir nie auf eine meiner Reisen einen Brief mitgegeben. Sie hat mir, wenn ich genau nachdenke, nie einen Brief geschrieben. Ich meinerseits habe ihr in der Zeit, als wir uns kennenlernten, hunderte von Briefen geschrieben, die ausnahmslos ohne ein Echo geblieben waren. Wir kannten uns schon seit der Grundschule - waren zusammen auf dasselbe Gymnasium gegangen, hatten zusammen das Abiturzeugnis bekommen. Danach allerdings hatten sich unsere Wege getrennt. Während ich in München Komponist geworden war, hatte sie in Düsseldorf studiert: Klavier. Erst nach dem Studium trafen wir uns wieder. Zwei Heimkehrende. Sie unterrichtete und gab Konzerte - ich behandelte Autos in einer Waschstraße und unterrichtete...Alexander, der sich - nicht zuletzt auf Zureden seiner Mutter hin - tiefere Einblicke in die Theorie der Musik erhoffte und schon damals schrieb.
Schon als Vierzehnjähriger hatte er einen Lyrik-Wettbewerb zum Thema Schöne neue Welt gewonnen. Alle Zeitungen der Stadt hatten darüber berichtet. Monatelang war er herumgereicht worden. Als ich während der Preisverleihung die Herrentoilette aufsuchen mußte (genau genommen war es kurz vor Beginn der Zeremonie gewesen), hörte ich durch die dünnen Wände hindurch ein Gespräch aus der Damentoilette. Alexanders Mutter - ich erkannte ihre Stimme gleich - hatte einer eigens angereisten entfernt verwandten "Tante" lang und breit von den Talenten ihres Sohnes erzählt, der ein Buch nach dem anderen lese und auch großes Interesse an Musik habe, jedoch leider nur einen Lehrer von minderer Qualität habe finden können, der zudem noch zweifelhaften sozialen Verhältnissen entstamme. Sie - so die Mutter - wünsche sich für den Sohn (Lexchen) eine Offizierslaufbahn. Ansonsten sehe sie seine Zukunft zweifelsohne zunächst in der Juristerei. Schreiben solle er natürlich weiterhin. Mit den Frauen werde er sich Zeit lassen. Sie könne durchaus auf den Tag warten, an dem ihr Sohn (von einem der vielen zweifelhaften Weibsbilder, die es ohnehin nur familiäre Vermögen abgesehen hätten) verdorben und zugrunde gerichtet werde. Ihr Mann sei ohne Zweifel derselben Ansicht. Gottlob zeige Alexander, obwohl heftig pubertierend (dabei lachte sie kurz auf), keinerlei Interesse an Verderbtheiten. Vielmehr gebe er sich mit den Reizen seiner Mutter mehr als zufrieden. Sein Theorielehrer jedenfalls habe noch und werde hoffentlich nie einen schädlichen Einfluß auf den Jungen ausüben. Lexchen sei gottlob auch helle genug, einen Autowäscher von einem wirklichen Künstler unterscheiden zu können. Es verhalte sich mit diesem Lehrer ähnlich wie bei einer Reinigungshilfe (sie sagte nicht Putzfrau)... Leider begann unmittelbar nach diesem Satz die Zeremonie. Die Damen beeilten sich mit dem Verlassen der Toilette, um dann in der ersten Reihe Platz zu nehmen. Ich saß im mittleren Bereich der Ränge und werde nie vergessen, wie sich Alexanders Mutter nach der Übergabe des Preises prüfend und nach Zustimmung heischend im Publikum umsah und sich dabei nach Kräften bemühte, mich zu übersehen. Kurz darauf heiratete ich meine Frau, die wohlhabend genug war, mich aus der Waschstraße freizukaufen. Die Schwiegereltern schenkten uns einen Flügel: ich mußte mit dem Komponieren anfangen.
Unser Abendessen war wenig spektakulär. Für den nächsten Morgen, so Alexander, habe er den Besuch im Adlon vorgesehen. Zwirn sei angesagt. Was so viel bedeutete wie: Ich möge mich doch bitte elegant kleiden. Den Abend verbrachte ich mit dem Einrichten der Partitur und dem Anfertigen von Skizzen für mein Opernprojekt. Bei einem gemeinsamen Tee, den wir ins Gerhards Wohnzimmer einnahmen, sprachen wir über den Niedergang der Fernsehlandschaft und die widerliche Allgegenwart von Musik. Alexander beklagte sich über den Lärm in der Stadt. Kaum ein Auge tue er zu. Nicht einmal das Fenster könne er öffnen, ohne eine Gefährdung seines viel zu leichten Schlafes befürchten zu müssen..
Nach dem Frühstück - ich hatte Croissants besorgt und Milchkaffee gekocht - erinnerte Alexander mich nochmals an die notwendige Garderobe und gab mir 30 Minuten Zeit. Gegen 10 Uhr verließen wir das Haus und gingen zu Fuß in Richtung Adlon. Ich im schwarzen Anzug mit Mantel - Alexander, zu meiner allergrößten Verwunderung, in Jeans und offenem grünen Hemd - dazu den Hut und weiße Turnschuhe. Nie zuvor hatte ich ihn in einer solchen Aufmachung gesehen und war mir sicher, daß er etwas Derartiges auch als Aufmachung bezeichnet haben würde. Wir waren etwa 20 Minuten gelaufen, als er mich um eine Zigarette bat. Mein sichtliches Erstaunen ließ er gänzlich unbeachtet. Die Zigarette klemmte er - nahe der Schwimmhäute - zwischen Zeige- und Mittelfinger und rauchte also gewissermaßen mit der flachen Hand vor dem Mund. Er habe einmal eine dieser fatalen Frauen gekannt und leider auch geliebt, von denen sich jeder Mann zum Äußersten treiben lasse. Zu spät habe er gemerkt, daß dieses Wesen ihm die Selbstachtung geraubt habe. Er habe mit dem Trinken angefangen und nur noch Gedichte geschrieben. Zwischendurch habe er Tabletten genommen - entweder um wach zu werden, oder aber, um schlafen zu können. Nur mit äußersten Mühe habe er seinen Eltern sowohl seinen inneren als auch den äußeren Zustand verbergen können. Eines Mittwochs sei er mit dieser Frau, deren Namen er nie im Leben wieder aussprechen werde, an einer Fußgängerampel gestanden. Als die Ampel auf Grün gesprungen sei, habe er die Frau laufen lassen. Er sei stehen geblieben und habe sich danach nie wieder mit ihr getroffen. Zwei Jahre später sei er anläßlich einer Lesung in der Moerser Stadtbibliothek mit einem Mann zusammengetroffen. Im Laufe einer Unterhaltung habe sich herausgestellt, daß diese Frau auch ihn - diesen Mann - infiziert und in den Abgrund getrieben habe. Ihretwegen habe er sich scheiden lassen, um kurz darauf von ihr sitzengelassen zu werden. Dieser Mann - ein Lesehungriger - habe später wiederum von einem anderen Mann erfahren, daß die Frau in psychiatrische Behandlung gekommen und in eine Klinik eingewiesen worden sei. Danach habe sich ihre Spur verloren. Er - Alexander - lese noch ab und zu seine Ergüsse aus dieser Zeit und könne bis heute nicht verstehen, wie ihm etwas Derartiges habe passieren können.
Auf dem letzten Stück des Weges wurden wir mehrmals von Bettlern angesprochen. Während für mich der Anblick eines bettelnden Menschen bis auf den heutigen Tag mit unergründlichen Schuldkomplexen verbunden ist, ist Alexanders Benehmen ganz anders. Während er den Leuten fest in die Augen blickt, senkt er eine Hand in die Hosentasche und läßt sie dann stehen.
Als wir in Sichtweite des Adlon angekommen waren, hielt Alexander an. Meine Aufgabe, begann er, sei es nun, in der Lobby des Hotels einen Kaffee zu trinken. Das Problem allerdings bestehe nicht so sehr darin, den Kaffee zu trinken. Es sei vielmehr schwierig, den Türsteher zu passieren. Natürlich habe die Situation etwas Kafkaeskes. Seiner Meinung nach hänge es von der inneren Haltung eines Menschen ab. Wer diese Haltung nicht habe, werde nie in den Genuß der Situation kommen, in einem Haus dieser Klasse einen Kaffee zu nehmen. Es komme auf ein deutliches Signal an - eines, das absolutes Desinteresse ausdrücke und keinen Anflug von Abhängigkeit.
Es sei ihm, als ich noch in der Waschstraße gearbeitet habe, immer aufgefallen, daß ich kaum je ein Trinkgeld von irgendeinem meiner Kunden bekommen habe. Deutlich erinnere er sich an meine oftmals ausgesprochene Unzufriedenheit. Als er einmal - einer Terminänderung wegen - vor der Waschstraße nach mir gesucht und nur nichtstuend herumgestanden habe, sei gleich eine Frau mit einem Auto vorgefahren und habe ihm ein zweistelliges Trinkgeld angeboten. Verantwortlich für diesen Umstand sei einzige die Tatsache gewesen, daß man ihm habe ansehen können, daß er kein Geld gebraucht habe - niemals welches brauchen werde. Er jedenfalls wette, daß ich es nicht schaffen werde, den Türsteher zu passieren. Fünf Minuten gebe er mir für die Aktion. Sei ich dann nicht in der Lobby, werde er sein Glück versuchen.
Es waren noch rund 200 Meter bis zum Adlon. Ich ging los und merkte bei jedem Meter, den ich zurücklegte, eine wachsende Verkrampfung. Ständig kamen Leute durch die Tür - andere gingen hinein. Der Türsteher bewegte sich nicht. Keinen der Kommenden oder Gehenden schien er auch nur eines Blickes zu würdigen. Als ich noch zehn Meter vom Eingang entfernt war, senkte ich den Kopf und ging ein wenig langsamer. Ich war eben auf der Höhe des Türstehers angelangt und dabei, ihn zu grüßen, als der Mann sich höflich an mich wandte und mich fragte, ob ich im Hotel abgestiegen sei. Ich verneinte und sagte, ich sei mit einem Gast verabredet. In der Lobby. Der Türsteher sah mich durchdringend an. Einer plötzlichen Eingebung folgend änderte ich meine Taktik und erklärte dem Mann, daß es mir einzig darum gehe, einmal die Lobby des Adlon zu sehen und dort einen Kaffee zu trinken. "Denn jehn Se mal woanders hin, junger Mann", antwortete der Alte. "Dett is hier keen Kaffeehaus." Ich spürte gleich, daß er zwecklos war, mit dem Mann zu diskutieren, drehte mich um und ging.
Von der anderen Straßenseite aus beobachtete ich einige Minuten später Alexander, wie er mit Jeanshose, offenem grünen Hemd, weißen Turnschuhen und Borsalino im Adlon verschwand - nicht ohne sich vorher einmal lächelnd zu mir umgedreht zu haben. Der Türsteher hatte keinerlei Anstalten gemacht, ihn aufzuhalten. Zwanzig Minuten später verließ Alexander mit einer gutaussehenden Schwarzhaarigen untergehakt das Hotel. Die beiden unterhielten sich. Ein Taxi fuhr vor - der Türsteher öffnete den beiden den Schlag. Das Taxi fuhr davon. Noch beim Einsteigen hatte Alexander den Türsteher angesprochen. Der winkte mich zu sich. Ich überquerte die Straße und ging auf den Mann zu. Ohne ein Wort übergab er mir einen Briefumschlag und ging an seinen Platz zurück.
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