Lichtspiele
Die Sache hatte ziemlich unbedeutend begonnen. Wie jeden Monat war ich
mit meiner Frau ins Kino gegangen. An den Film kann ich mich heute nicht mehr
erinnern, wie ich mich kaum je an einen Film erinnern konnte, den wir zusammen
gesehen haben. Unsere Ehe war eine von denen, die man gemeinhin als
durchschnittlich bezeichnet. Mittwochs gegen dreizehn Uhr hielten wir einen
Beischlaf ab, und samstags pflegte Anni mich vor dem Frühstück zu besuchen (wir
schlafen getrennt), was in unserem interfamiliären Jargon als ich komm ma
bei dich bei bezeichnet wurde. Zwei mal wöchentlich also kam Anni ma bei
mich bei, ausgenommen, wenn sie das war, was wohl gemeinhin als unpässlich
bezeichnet werden muss. Abgesehen von diesen Ausfallzeiten hielten wir auf
strenge Disziplin und fuhren gut damit. Wir befanden uns, so weit ich mich
erinnern kann, im fünften Jahr unserer Zinstilgung, und Anni hatte gerade
mehrere Berufsunfähigkeitsversicherungen auf mich abgeschlossen, die – so hatte
es ihr ein Finanzberater gesagt – für eine sorgenfreie Zukunft unabdingbar
seien. Der Berater, dessen Name in unseren Unterhaltungen niemals gefallen war,
bot noch andere alleinseligmachende Care-Pakete für die junge Familie, denen
Anni nicht widerstehen konnte. Beim Mittagessen wurden mir Verträge vor den
Teller geschoben, auf denen vorsorglich an den entsprechenden Stellen bereits
eine Markierung eingezeichnet war. Bitte hier unterschreiben stand auf
den Schriftstücken, die ich klaglos mit meinem Namen und der dazugehörigen
Kontonummer versah.
Für gewöhnlich hatte Anni - zumindest was unsere gemeinsamen Kinobesuche
anging - die Programmhoheit, da sie weder Blut noch nacktes Schauspielerfleisch
zu sehen wünschte. In der Regel lief ihre Auswahl auf belanglose Komödien
heraus, deren Enden für gewöhnlich genügend Gelegenheit boten, in ein eigens
dafür mitgebrachtes und zu keinem anderen Zwecke dienendes Taschentuch zu
schnäuzen. Wenn wir nach einem solchen Kinobesuch nach Hause kamen, pflegten
wir wortlos in unseren Zimmern zu verschwinden, da sich Anni in der
Abgeschiedenheit ihrer Restemotionen entledigen wollte. Meist pflegte Anni dann
in alten Poesiebüchern zu blättern und an ihre große Jugendliebe zu denken. Ein
gewisser Bertram war im Alter von fünfzehn an sie herangetreten und für einige
Monate zum schwer umkämpften Mittelpunkt ihres traumdurchtränkten Lebens
geworden, bevor er sich dann entschlossen hatte, die Priesterlaufbahn
einzuschlagen und sich fortan der fleischlichen Liebe zu versagen. Jahre später
- und bereits mit der Kaplanwürde versehen
- war Bertram zusammen mit der Gemeindeschwester Bernie vom Diakon in
eindeutiger Position auf der Orgelbank überrascht worden und nach Amerika
ausgewandert, wo er zuerst dem Islam und später dem Alkohol verfallen war. Kurz
nach Bertrams Abgang waren unsere Leben zusammengestoßen. Wir heirateten schon
bald und bekamen – auf den Tag genau neun Monate nach unserer Hochzeit –
Drillinge. Sehr zur Freude von Annis Eltern, die unverzüglich die Erziehung
übernahmen.
Es war vor gut drei Jahren, als Anni mir beim donnerstäglichen
Mittagessen wortlos das neue Kinoprogramm vor den Teller schob. Ihr Wunschfilm
war mit blauem Kugelschreiber eingeringelt. Ich nickte, Anni telefonierte rasch
mit ihrer Mutter, und einem gemütlichen Kinoabend stand nichts mehr im Weg. Es muss
– ich bin mir ziemlich sicher – der Film wieder eine dieser belanglosen
Liebeskomödien gewesen sein, denn ich erinnere mich nicht einmal mehr an den
Titel, geschweige denn an ein Bruchstück der Handlung oder gar einen der
Schauspieler. Ich weiß nur, dass Anni auch diesmal kurz vor Ende des Films von
ihrem Taschentuch Gebrauch machte und mich schon während des Abspanns (ich saß
immer auf dem Platz am Gang) bat, sie durchzulassen, weil ihre Blase derart
gefüllt sei, dass sie es keine weitere Minute auszuhalten imstande sei. Eigentlich
– so Anni – habe sie schon vor einer halben Stunde gemusst, aber sie
habe einfach nichts verpassen wollen. Wir verließen – das weiß ich noch ganz
genau – als erste den Kinosaal, und Anni stürmte der Tür mit dem Zopfgesicht
entgegen. Sie tat das eigentlich nach jedem Film, da sie immer ein großes
Wasser zu ihrem Popcorn zu bestellen pflegte, während ich mir die Zeit mit
einem alkoholfreien Bier vertrieb. Die Tür fiel hinter Anni ins Schloss. Ich
stand auf dem Gang und rauchte eine Zigarette. Die ersten Mitleidenden
verließen den Kinosaal, und boten Gelegenheit zu der Erkenntnis, dass es nicht
nur bei Anni und mir ein immergleiches Ritual gab. Auch die anderen Frauen
kamen leicht verheult aus der Dunkelheit und schlugen den Weg zur zopfgesichtigen
Tür ein. Auch die anderen Herren steckten sich leicht gelangweilt und ungerührt
vom eben Erlebten eine Zigarette an oder suchten gleich den Weg zum
Hauptausgang. Als wir den Saal verlassen hatten, war es 22.19 Uhr gewesen. Mein
Fernsehtermin war leicht zu schaffen. Anni würde wie gewöhnlich in ihrem Zimmer
verschwinden und die Poesiealben aus einer blauen Pappschachtel holen, auf
deren Grund – ich hatte das ausspioniert – ein Jugendbildnis von Bertram und
eines von seiner Primiz lagen. Ich zählte die Frauen, die nach Anni durch die
Toilettentür gingen: Es waren neun. Ich zählte die Frauen, die vor Anni wieder
herauskamen: Es waren neun. Ich wartete zwanzig Minuten. Niemand ging hinein.
Anni kam nicht heraus. Längst waren unsere Nachfolger für die Spätvorstellung
in den Kinsosälen verschwunden. Ich fühlte mich sicher und betrat die
Damentoilette. Es war niemand da. Alle Türen standen offen. Nirgends eine
Gelegenheit, sich zu verstecken. Dann ging die Türe auf: ein junges Ding – sie
mochte siebzehn sein – ruderte in kahnhohen Schuhen zur Tür herein und blökte: Na,
Opa, hasse wohl einen über den Durst getrunken und die falsche Tür genommen,
oder wollze mich etwa anmachen? Ansatzlos begann sie ein hysterisches
Schreien, und binnen kürzester Zeit bevölkerten mehrere (übrigens männliche)
Bedienstete die Damentoilette, von denen mir einer den rechten Arm wie mit
einer Schraubzwinge auf den Rücken drehte. Es dauerte keine zehn Minuten – man
sperrte mich in einen der Vorführräume – und die Polizei war da. Nach dem Grund
für mein Eindringen in die Fremdtoilette befragt, versuchte ich es (warum ahnte
ich denn nicht, dass meine Geschichte mich nur noch verdächtiger machen musste)
mit der Wahrheit. Meine Frau, beteuerte ich, sei vor gut fünfundzwanzig Minuten
in der Toilette verschwunden und danach nicht mehr aufgetaucht, berichtete ich
und war mir der Doppelsinnigkeit dieser Aussage nicht bewusst. Nur zu
Kontrollzwecken hätte ich mich auf die Toilette begeben, meine Frau aber nicht
finden können. Sie glaubten mir kein Wort, und ich gab eine Vermisstenanzeige
auf.
Seit dem sind drei Jahre vergangen. Ein halbes Jahr davon saß ich in
Untersuchungshaft, da meine Schwiegereltern mich aus Verzweiflung angezeigt
hatten, obwohl sie doch wussten, dass Anni und ich ein als durchaus herzlich zu
bezeichnendes Verhältnis unterhielten. Selbst Bertram – mittlerweile mit
ausladenden Brüsten und dem Namen Conny versehen sowie vom Alkoholismus genesen
– kam aus Amerika. Wünschelrutengänger wurden auf unser Grundstück geschickt:
Sie sollten im Auftrag meiner Schwiegereltern Anni oder zumindest ihre Reste finden.
Die Drillinge wurden mit weggenommen. Das Haus musste verkauft werden. Trotzdem
zehre ich jetzt von Annis Lebensplanung, denn aufgrund meines nervlichen
Zustandes bin ich in den Genuss der Arbeitsunfähigkeitsversicherungen gekommen.
Ich wohne mittlerweile in einer Reihenhaussiedlung und habe mir eine
Jahreskarte für das Kino gekauft. Noch immer ist Anni nicht für tot erklärt
worden. Die Zeitungen schrieben über meinen Fall, und das Kino ist längst zu
einer Art Kultstätte geworden. Von ihren Frauen enttäuschte Männer haben
ebenfalls Jahreskarten gekauft und besuchen die Zwanzig-Uhr-Vorstellungen,
spendieren reichlich Getränke und schicken ihr emotionales Übergewicht
anschließend in freudiger Erwartung durch die Zopfgesichtstür. Nicht eine ist
abhanden gekommen. Einen zweiten Ausgang gibt es nicht und hat es nie gegeben.
Anni bleibt verschwunden, und Conni betreibt einen kleinen Kiosk schräg
gegenüber dem Haupteingang. Manchmal nach einer Vorstellung besuche ich sie.
Sie erzählt mir vom Islam, Amerika und dem Alkohol. Ich lese ihr aus Annis
Poesiealbum vor. Dann weinen wir zusammen
Heiner Frost
Erstellt: 11.05.2002, letzte Änderung: 24.07.2005